Wer die Nordterrasse des Haus der Kunst entlang geht, wird womöglich an der Installation „Wunden der Erinnerung“ vorbeilaufen. Die Arbeit, die an einer Säule auf der Rückseite des Gebäudes montiert wurde, ist Teil eines europaweiten Projekts - ein Erinnerungszeichen an die Narben des Zweiten Weltkrieges, dessen Ende sich am 8. Mai zum 75. Mal jährt.
„Wunden der Erinnerung“ entstand 1993 in München. In dieser Zeit begannen Künstler*innen konsequent am Prozess des Erinnerns und Gedenkens zu partizipieren und mit Aktionen und Installationen Stellung zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Stadt und ihrer Erinnerungspolitik zu beziehen. Statt finale Antworten zu geben, ging es darum, wahrzunehmen, was andere übersehen, Leerstellen sichtbar zu machen und Spuren des Vergessens und Verdrängens zu sichern.
So begann auch das Projekt „Wunden der Erinnerung“ von Beate Passow (*1945) und Andreas von Weizsäcker (1956-2008) mit einer Spurensuche. Passow und von Weizsäcker recherchierten nach Spuren des Zweiten Weltkrieges. Mittels seriell gefertigter, quadratischer Glasscheiben machten sie in Deutschland und in acht an Deutschland grenzenden Ländern Einschussnarben von Bombensplittern und Granaten kenntlich – Kriegsnarben, die im alltäglichen Umfeld heute kaum mehr wahrnehmbar sind und erst durch diesen subtilen künstlerischen Eingriff als - wie der Titel des Projekts schon darauf verweist - offene Wunden sichtbar werden. Dabei interessierten sich Passow und von Weizsäcker sowohl für zentrale Gebäude wie etwa das Haus der Kunst, das 1937 als „Haus der Deutschen Kunst“ und maßgebende Institution nationalsozialistischer Kunstpolitik und Propaganda eröffnet wurde, als auch für zivile, periphere Orte. So markierten sie zum Beispiel in Rotterdam Einschlusslöcher an einem Brückenkopfpfeiler. In Prag fanden sie durchschossene Bücher, die nach dem Bombenangriff auf das Rathaus in den letzten Kriegstagen geborgen werden konnten, und im Wald in der Umgebung um die luxemburgische Gemeinde Diekirch stießen sie auf Bäume, deren Stämme Granatsplitter durchdrungen hatten. Die sichtbaren Wunden stehen für die unsichtbaren Verletzungen, die Krieg und Zerstörung hinterlassen haben.
In diesen Tagen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum 75. Mal. Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Hauptquartier der westlichen alliierten Streitkräfte in Reims die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht. Sie trat am 8. Mai 1945 um Mitternacht an allen Fronten in Kraft. Nach und nach rückten die nationalsozialistischen Verbrechen, das kaum fassbare Unrecht der radikalen Umkehr aller menschlichen Werte ins Bewusstsein der Welt. Was kaum einer hatte sehen wollen, wurde spätestens nun für alle unausweichlich offenkundig. Doch die deutsche Nachkriegsgesellschaft blendete Fragen nach Schuld und Mitverantwortung, nach Ursache und Wirkung mehrheitlich aus. Erst die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes - in der er den 8. Mai 1945 zum „Tag der Befreiung“ erklärte – war eine erinnerungspolitische Zäsur.
Was bedeutet es heute, sich auf eine Arbeit wie „Wunden der Erinnerung“ einzulassen?
Auch wenn die Installation 75 Jahre nach Kriegsende und 27 Jahre nach ihrer Entstehung wohl kaum mehr tiefe Erinnerungen freilegen kann, so verwickelt sie ihre Betrachter immer noch in ein Gespräch und lässt Gedankenströme zusammenlaufen. Diese Wunden sind sichtbar geblieben. Sie tragen die Vergangenheit mit sich als eine Art Erinnerungsraum und Reflexionsort, an dem wir die Möglichkeit haben, uns mit den Spuren der Geschichte auseinanderzusetzen, um Fragen zu beantworten, die uns heute relevant und wichtig sind.
Im Januar dieses Jahres forderte die Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in Deutschland, die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano, den 8. Mai als Tag der Befreiung zu einem bundesweiten Feiertag zu erklären. Denn „Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen nicht“, schreibt Bejarano in ihrem „offenen Brief an die Regierenden und alle Menschen, die aus der Geschichte lernen wollen“. „Diese Betroffenheit muss zum Handeln führen, es muss gefragt werden, wie es so weit hat kommen können. Es muss gestritten werden für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, ohne Ausländerhass! Nicht nur an Gedenktagen!“ Der Blick auf die Vergangenheit kommt aus der Gegenwart und führt in die Zukunft.
Sabine Brantl leitet die Stabsstelle Geschichte am Haus der Kunst. Als Kuratorin ist sie für Ausstellungen und Projekte zur Geschichte des Hauses, Archiv und Erinnerung zuständig.