Ein Einblick in Sung Tieus umfangreiche Neuproduktion "Zugzwang", die bislang größte und umfassendste Arbeit der deutsch-vietnamesischen Künstlerin.
Zugzwang von Sung Tieu (* 1987) ist eine der aktuellen "Kapseln" im Haus der Kunst und damit Teil einer Ausstellungsreihe, die jährlich zwei international bekannte Künstler/innen einlädt, neue Arbeiten zu entwickeln. Zugzwang ist eine multiperspektivische Installation, die die Verflechtungen von persönlichen Erzählungen und Bürokratie untersucht. Indem sie die Geschichte des fiktionalen Bürokraten "Mr. Stevens" mit Bezügen zur Kindheit der Künstlerin kombiniert, die Anfang der 1990er-Jahre als informelle Migrantin aus Vietnam nach Deutschland kam, reicht sie weit über das Autobiographische hinaus. Zugzwang schafft ein ausgedachtes, vom Minimalismus inspiriertes "Büro", worin die Künstlerin echte und fiktionale Darstellungen, Charaktere, Dokumente und Objekte verflicht. Diese zeigen, wie bürokratische Prozesse – besonders jene, denen sich Asylsuchende ausgesetzt sehen – Bewerberinnen und Bewerber oft in prekäre, benachteiligte Positionen zwingen (worauf auch der deutsche Schachbegriff "Zugzwang" hindeutet). Die Arbeit ist gespickt mit Insider-Witzen und unzähligen Bedeutungen, die zutage treten, wenn man die Installation mit Tieus früheren Arbeiten in Beziehung setzt.
Rasterstrukturen
Eines der auffälligsten Kennzeichen von Zugzwang sind die geometrischen Strukturen. Zwei imposante Regaleinheiten stehen in der Mitte. Sie sind flankiert von linear angeordneten Bewerbungsformularen und drei symmetrisch angebrachten Spiegeln. Kennt man Tieus Arbeit, fühlt man sich bei dieser Konstellation sofort an ihr durchgehendes Interesse am Minimalismus und an Rasterstrukturen erinnert, die sie immer wieder verwendet, um in ihren Installationen einen "modularen Ansatz" zu schaffen, wie es die Kunsthistorikerin Pamela Corey ausgedrückt hat.
Für Remote Viewing (2017) konstruierte Tieu ein geometrisches Gehäuse, das auf einem vietnamesischen Gittermuster basiert, wie es oft in architektonischen Dekorationen und Tempeln zu finden ist. Wenn es zusammen mit der Videoarbeit No Gods, No Masters (2017) gezeigt wird, die sich mit vietnamesischer Spiritualität und psychologischer Kriegsführung von den späten 1960er-Jahren bis heute befasst, stellt dieses Raster auch Bezüge zu Kartierung, Transparenz und Überwachungstechnologien in militärischem und staatlichem Einsatz her.
In Coral Sea As Rolling Thunder (2017) wiederum dient ein dreidimensionales Gitter als Rahmen und Stützwerk für einen Film über Umweltzerstörung. Hier spielt Tieu darauf an, wie menschengemachte Strukturen oft von Naturformen inspiriert sind, aber gleichzeitig die Ökosysteme zerstören, die sie nachahmen wollen.
In beiden Arbeiten ist das Raster keine feste oder neutrale Struktur. Es beschwört das Wechselspiel zwischen Transparenz, Design und Kontrolle und stellt somit Vorstellungen von Ordnung und Hierarchie in Frage. Diese Ideen finden sich auch in eindrucksvoller Weise bei Zugzwang wieder, wo einerseits die zentralen Regaleinheiten auf bürokratische Motive wie Archive, Arbeitsplätze in Großraumbüros, Verwaltungsgebäude etc. verweisen. Andererseits verleihen sie den gezeigten Objekten keine sichtbare Ordnung oder Hierarchie. Die Betrachterin oder der Betrachter muss die Bedeutungsstränge zwischen diesen Objekten selbst entschlüsseln; sie handeln alle von Themen wie individuelle Willensstärke, Mitgefühl und Ausdauer angesichts rechtlicher Verfahren.
Dokument-Interventionen
Betritt man das fiktionale 'Büro' von Zugzwang, gibt ein fortlaufendes Schachspiel, dass auf Bewerbungsformulare an den Wänden gezeichnet ist (eine Arbeit namens Alekhine’s Defence), Anhaltspunkte für den Weg. Die Formulare basieren auf echten bürokratischen Dokumenten – genauer gesagt auf einem zehnseitigen Formular für Asylbewerber, einem Meldeschein und einem zwanzigseitigen Einbürgerungsantrag – die die Künstlerin für ihre Arbeit verändert hat. So fehlen beispielsweise alle Hinweise auf die Nationalität. Es geht generell um die breiter gefasste Migration aus der 'Dritten Welt' in die 'Erste Welt'.
Tieus Interesse an der Modifikation existierender Dokumente bezieht sich auf das frühere Projekt Formative Years on Dearth (2019), wofür sie im Archiv des britischen Konzeptkünstlers John Latham (1921-2006) recherchiert hat. In dieser Arbeit wollte sie kein neues Verständnis von Lathams Arbeit erreichen, die bereits eingehend kunsthistorisch erforscht ist. Stattdessen 'filterte' sie das Archiv durch ihre subjektiven Erfahrungen. Sie verband ihre eigene Biographie mit Lathams Biographie, indem sie Korrespondenzen, Dokumente, Fotografien und Zeitungsausschnitte unter anderem zu Deutschland, zur Fluxus-Bewegung und zum Transnationalismus ausstellte. Die fertige Installation bestand aus einem losen, phantasievollen Informationsextrakt. Tieus 'Intervention' ging soweit, dass sie ganze Absätze und Sätze aus den originalen Dokumenten entfernte; dadurch wurde verdeutlicht, dass Archive der Komplexität individueller Subjektivität selten gerecht werden.
In ähnlicher Weise fügt sich Tieu auch bei Zugzwang selbst in die Erzählung ein: Auch hier werden Dokumente 'gefiltert' und spiegeln ihr Interesse an wirtschaftlichen und zwischenmenschlichen Verflechtungen wider. Indem sie die Bewerbungsformulare auf Augenhöhe ausstellt, werden die Besucherinnen und Besucher eingeladen, sich selbst als Teil des bürokratischen Verfahrens zu verstehen; sie sollen darüber nachdenken, wie sie selbst auf die gestellten Fragen antworten würden. Dadurch werden sie selbst – zusammen mit der Künstlerin, deren Mutter, dem fiktionalen Mr. Stevens und unzähligen namenlosen Bewerberinnen und Bewerbern – als 'Subjektivitäten' Teil der Ausstellung.
Fiktionsbericht
Tieus Einladung, sich mit multiplen Subjektivitäten zu befassen bzw. sich als multiple Subjektivitäten wahrzunehmen, kommt am eindringlichsten in den fiktionalen Zeitungsartikeln zum Ausdruck, die in der Ausstellung verteilt sind. Ein Artikel mit dem Titel ‘Manning The Deck’ hängt an einer spiegelnden Magnettafel. Er enthält ein biographisches Porträt über den fiktionalen Bürokraten und "leitenden irischen Angestellten in Brüssel”, James Stevens, verfasst von dem fiktiven Autor Quentin Lentini (eine scherzhafte Anspielung auf den Kurator der Ausstellung). Ein zweiter Artikel, ‘Citizen Of Nowhere’, liegt auf dem Schreibtisch unter einer Kaffeetasse, als ob ihn gerade jemand gelesen hat; ein dritter mit dem Titel ‘Borders 2.0’ befindet sich im Regal. Diese Texte, die wie Zeitungsspalten formatiert sind, imitieren echte Presseberichterstattung und enthalten dabei erfundene Anekdoten, Szenen und Charaktere. Sie vermitteln die gesellschaftlichen und politischen Anliegen von Tieus Werk und parodieren dabei die Arbeitsweise der Medien, die leichtfertig sensationalisisieren und Vorurteile bedienen.
Tieu hat solche 'Fiktionsberichte' bereits in mehreren früheren Arbeiten eingesetzt, besonders in der Trilogie Loveless, Formative Years on Dearth und Parkstück von 2019. Diese Multimedia-Installationen befassten sich damit, wie öffentliche Räume und Gebäude einerseits Gentrifikation und andererseits die Lebensbedingungen von Geringverdienenden ausdrücken und verschärfen. Überall in diesen Arbeiten tauchen Tieus Zeitungsartikel mit ihren fiktiven Berichten auf, die manchmal fast wie eine Farce erscheinen. In Parkstück etwa berichtet ein Text von einem erfundenen Kampf zwischen zwei Eltern auf einem Spielplatz. Die Komik in diesem Bericht "ist eine Auflockerung der Ernsthaftigkeit mancher Themen", wie die Künstlerin sagt.
Tieus Fiktionsberichte spielen auch eine wichtige Rolle bei der Festsetzung von Bezügen zwischen den einzelnen Objekten, sowohl innerhalb einer Arbeit als auch über mehrere Installationen hinweg. In diesem Sinne entwirft der Artikel ‘Inside the Blocks’ in Formative Years on Dearth ein Bild des Inneren eines Asylheims. Die Beschreibung basiert auf einem echten Foto, das die Künstlerin und ihre Mutter in solch einer Unterkunft in Berlin-Hohenschönhausen zeigt, wo sie nach ihrer Ankunft in Deutschland 1992 wohnten. Dasselbe Foto befindet sich in den Regalen von Zugzwang. Hier tritt es in Dialog mit dem erwähnten Artikel ‘Manning The Deck’, der an einen Spiegel neben dem Schreibtisch geheftet ist. In dem Artikel werden das Leben und die Familie des Bürokraten James Stevens beschrieben und man erfährt über seine vietnamesische Frau und die gemeinsame Tochter, welche in London lebt. Ebenfalls erwähnt wird, dass ein "Schwein" unter dem Schreibtisch von Stevens daran erinnern soll "nicht anderer Leute Geld zu verschwenden". Ganz richtig befindet sich auch ein Sparschwein im Regal – und so werden weitere Verbindungsstränge und Bezugsebenen geschaffen, die in Tieus Texten ihren Ursprung haben.
Bedeutungsvolle Readymades
Tieus mehrschichtige Bedeutungen und Bezüge gipfeln in den Readymades, die als Objekte in fast allen ihrer Arbeiten auftauchen. Die Installation Loveless mit einer Gefängnisbank und einem Arrangement verstreuter Lebensmittel- und Getränkepackungen ist dafür ein Paradebeispiel. Zunächst ist unklar, welche Objekte zu dem Kunstwerk gehören; erst wenn man die Tonspur beachtet (Tieu hat Lautsprecher in den Packungen versteckt), versteht man, dass alle Gegenstände, so banal sie auch sein mögen, Teil der Assemblage sind.
Auch Zugzwang ist voller Alltagsgegenstände: Eine Kaffeetasse steht auf Tieus fiktionalen Berichten, Magnete haften an einer Magnettafel, auf einem unteren Regalbrett steht ein Papierkorb mit zerknülltem Papier. Einige dieser Gegenstände stammen aus dem Alltagskontext oder sind gekauft (ein Globus, ein Verbandskasten, eine Aktenablage), andere wiederum kommen aus dem Atelier der Künstlerin oder der Wohnung ihrer Mutter (vor allem eine Schmuckschatulle mit einer Ein-Cent-Münze, ein Paar Schuhe von Tieus Mutter, Fotografien und ein originaler Kinderwagen aus Tieus Kindheit).
Die Verwendung persönlicher Gegenstände ist nichts Neues für Tieu. In Song for Unattended Items zeigte sie ein Arrangement verlassener Taschen mit ihren eigenen Habseligkeiten als Kommentar zur öffentlichen Überwachung im Zuge der Terrorbekämpfung. Der persönliche Wert der Dinge wurde dabei nicht betont, da sie – Kleidung, Medikamente etc. – in den Taschen verborgen blieben. Im Gegensatz dazu stellt Zugzwang unschätzbares persönliches Eigentum aus und zeigt dadurch eine Weiterentwicklung innerhalb Tieus Arbeit; ein Plastikblumenstrauß aus der Wohnung ihrer Mutter deutet nicht nur auf die Unantastbarkeit des Privatlebens im eigenen Heim hin, sondern erinnert auch an eine von Tieus frühesten Aktionen, Troi Oi (2014). Die Künstlerin hat eine Aktion in den Blumenläden vietnamesischer Besitzer in mehreren S-Bahn und U-Bahn Stationen in Berlin ausgeführt; eine Erinnerung an eine einst informelle Wirtschaftsstruktur, die der vietnamesische Community half finanzielles Einkommen zu beziehen.
Innerhalb der Installation Zugzwang gibt es auch Tassen mit der Aufschrift “moral inversion”, einem Zitat aus dem Buch Unmasking Administrative Evil (1998) von Guy B. Adams und Danny L. Balfour, das entmenschlichende und diskriminierende Prozesse in Verwaltungsverfahren untersucht. Im Kontext von Zugzwang spiegeln diese Tassen das Interesse der Künstlerin an der Art und Weise, wie alltägliche Gebrauchsgegenstände die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der Dritten und der Ersten Welt aufzeigen, wider. Außerdem sind sie ein seltenes Beispiel für die eigens von der Künstlerin entworfenen Objekte; normalerweise bevorzugt sie es mit Readymades zu arbeiten. Vor diesen Tassen hatte Tieu schon zweimal Objekte im Stil von Alltagsgegenständen selbst gestaltet: Sweatshirts für die Aktion Troi Oi und einen MP3-Spieler für die ortsspezifische Arbeit Subnational MP3 im Dong Xuan Center, einer großen vietnamesischen Markthalle in Berlin.
Achtet man auf solche Details, kann man in jedem einzelnen Objekt viele geschickt überlagerte Bedeutungsschichten und Bezüge entdecken. Sie kontextualisieren Zugzwang nicht nur zwischen unzähligen Subjektivitäten und Protagonisten, von denen die Ausstellung erzählt, sondern auch über verschiedene Räume und Zeiten hinweg, die mit Tieus früherer Arbeit verbunden sind. Obwohl sich die Ausstellung derzeit in der großen Halle des Hauses der Kunst in München befindet, öffnet sie einen fiktionalen Zugang zu den Märkten und Sozialwohnungen in Berlin, zum Elternhaus der Künstlerin und zu den zahllosen temporären Aufenthaltsorten, in denen heutige Kunstschaffende im transnationalen Kontext arbeiten.
Dr. Eva Bentcheva ist Kunsthistorikerin und Kuratorin mit Schwerpunkt auf transnationaler Konzept- und Performancekunst. Sie war Postgraduiertenstipendiatin des Goethe-Instituts am Haus der Kunst (2018-19).
Kapsel 11: Zugzwang von Sung Tieu wurde kuratiert von Damian Lentini, mit kuratorischer Unterstützung von Lisa Paland. Die Ausstellung im Haus der Kunst läuft vom 31. Januar bis zum 21. Juni 2020.