Hinter einem unscheinbaren Flyer, einem einzelnen Foto oder eines Grundrisses können sich ganze Lebensbiografien verbergen. Was erzählen diese Gegenstände aus der Archiv Galerie über queeres Leben in München? Die Akteur*innen Sabine Holm, Christine Schäfer und Thomas Niederbühl schildern ihre persönlichen Erinnerungen, die sie mit den Ausstellungsobjekten verbinden.
Sabine Holm über die Gründung des Lillemor's Frauenbuchladen
Die zwei Frauen auf der Aufnahme, die sich inmitten der Bücherregale niedergelassen haben, kenne ich nicht. Das Bild zeigt ganz schön, worum es uns ging. Es muss ziemlich in der Gründungsphase entstanden sein, 1975, kurz nach Eröffnung des Lillemor's Frauenbuchladen. Wir hatten einerseits klare Ideen und Absichten, waren gleichzeitig aber auch naiv und hatten idealistische Vorstellungen, was der Buchladen alles sein sollte. Es sollte ein Begegnungsort für Frauen sein, aber es sollte eben auch eine professionell geführte Buchhandlung für feministische Literatur werden. Ich war zuvor als Buchhändlerin in einem Verlag angestellt. Als Feministin wollte ich einen Ort für Literatur von und für Frauen schaffen. Wir wollten außerdem Arbeitsplätze bilden, die an die Bedürfnisse und an die Lebenswirklichkeit von Frauen angepasst sind. Zum Beispiel familienfreundliche Arbeitszeiten, Chancen auf Führungspositionen, gewaltfreie Umgebung. Wir fühlten uns zunehmend für unsere Kundinnen zuständig und übernahmen auch soziale und beratende Tätigkeiten. Das hat uns anfangs überfordert.
Es war mir eigentlich klar, dass wir auf Widerstand stoßen würden. Warum? Weil es in der Zeit nur wenige Frauen in einflussreichen Positionen gab, die sich selbstbestimmt und selbstbewusst durchsetzten. Sogenannte „Ausnahmefrauen“. Damit konnte das Problem der ungleichen Machtverteilung von Männern und Frauen als gelöst angesehen werden. Die Komikerin Carolin Kebebus hat dies kürzlich mit den Worten „Wir haben doch schon eine Frau“ auf den Punkt gebracht. Und dieser Geist spiegelt sich auch im Verhältnis zur Literatur wider. Christa Reinig zum Beispiel war eine bekannte Münchner Autorin. Sie war berühmt und im Literaturbetrieb anerkannt, weil – und jetzt kommt ein zweifelhaftes Kompliment – sie schreiben konnte wie ein Mann.
Wie die Aufnahme zeigt, haben wir damals mit sehr wenig Literatur in den Regalen eröffnet. Es gab noch nicht viel. Erst da ist uns klargeworden, dass wir eine Leerstelle füllten. Neben einem klassischen Buchhandels-Sortiment in der Belletristik, Kaschnitz, Bachmann, Aichinger usw., sollte ein Platz für Zeitschriften und Bücher entstehen, die gerade in Deutschland erschienen: Verena Stefan Häutungen, dann Alice Schwarzer mit ihrem Der kleine Unterschied, täglich wurden es mehr. Wir hatten auch Kinderbücher, Krimis, usw. Mit den Jahren gab es auch immer mehr Lesbenliteratur, wie zum Beispiel Rita Mae Brown, Rubinroter Dschungel oder amerikanische Manifeste wie Lesbian Nation.
Thomas Niederbühl über die politische Bewegung „VioRosa“
Auf den ersten Blick wirkt das Leporello „München leuchtet VioRosa 2. schwul-lesbische Kulturwochen“ in der Vitrine der Archiv Galerie völlig unscheinbar. Doch hinter den Kulturwochen „VioRosa“ von 1989 verbergen sich historisch wichtige Ereignisse für die queere Community in München und für meine Biografie. Aufgeschlagen präsentiert das Leporello ein umfangreiches Kulturprogramm, bestehend aus Filmvorführungen, Diskussionen, Kabarett und Theater. Der CSD, an dem ungefähr 600 Leute teilnahmen, bildete am 24. Juni 1989 den Abschluss der Kulturwochen. Heute sind es mehrere Zehntausend, die der CSD auf die Straße bringt. In den Achtzigern war ich in der Schwulenbewegung sehr aktiv und auch bei „VioRosa“ beteiligt, das 1985 erstmals im Stadtmuseum stattfand. Die zweite Ausgabe von „VioRosa“, zu dem das Faltblatt in der Vitrine gehört, fand 1989 im sogenannten „Loft“ statt. Ein altes Fabrikgebäude hinter dem Ostbahnhof, was zu Zwischennutzung zur Verfügung stand. Der Name „VioRosa“ vereint zwei Gruppen: Violett steht für die feministischen Lesben und Rosa für die Schwulenaktivisten. Die Zusammenarbeit von Lesben und Schwulen war alles andere als selbstverständlich. Lesbische Frauen wurden von uns schwulen Männern oft vereinnahmt und bevormundet. Deshalb engagierten sie sich lieber mit feministischen Frauen. Aber ich gehörte zu einer neuen Generation von Schwulen und Lesben, die sagten: „Trotz aller Unterschiede in unserem Begehren und unserem sozialen Umfeld sind wir gleich diskriminiert und wir wollen mehr Sichtbarkeit, mehr Teilhabe, mehr Akzeptanz durch unsere eigene Subkultur.“ Möglich war „VioRosa“ nur durch die finanzielle Unterstützung von rund 25.000 DM des Kulturreferats München, was vonseiten der CSU zu Protesten führte. Die CSU hatte gleich eine Anfrage gestellt, ob das Geld nicht sinnvoller für Kindertheater zu verwenden wäre.
Nach Presseberichten zu „VioRosa“ wurde mir von der katholischen Kirche die Lehrerlaubnis entzogen, ich konnte nicht mehr Religionslehrer werden. Das war praktisch ein Berufsverbot. Im Rahmen von „VioRosa“ hat der erste schwule Kommunalpolitiker von „Die Grünen“ Gerd Wolter nach seiner Verabschiedung vom Stadtrat den Vorschlag gemacht: Wie wäre es, wenn wir Schwule eine eigene Wählerinitiative gründen? Wir waren anfangs skeptisch, nach dem Motto: „Na ja, so ein Gerd-Wolter-Rettungsverein“. Auf der anderen Seite, und das hat uns überzeugt, war die schwul-lesbische Szene durch die AIDS-Krise in den Achtzigern bedroht, nicht nur durch das massenhafte Sterben von Homosexuellen, sondern eben auch durch Kulturkämpfe mit dem CSU-Freistaat, der auf Zwang und Ausgrenzung statt wie wir auf Aufklärung und Selbstbestimmung setzte. Wir hatten auch keine Lust mehr, ständig von außen der Politik auf die Füße zu treten. Tatsächlich haben wir dann im darauffolgenden September die schwul-lesbische Wählerinitiative „Rosa Liste“ gegründet. Im Oktober gab es die Aufstellungsversammlung, wo ich als 28-jähriger Student als Spitzenkandidat besetzt wurde. Seit 1996 bin ich nun im Stadtrat, fünfmal für sechs Jahre gewählt (1996, 2002, 2008,2014,2020), zuletzt 2020 bis 2026.
Christine Schäfer über den „Raum für Lesbengeschichte“
Ich freue mich sehr darüber, dass mit dem Grundriss das Lesbenarchiv, dieser spezielle Teil des „Forum Queeres Archiv München e.V.“, in der Ausstellung Sichtbarkeit erlangt. Das Forum war ursprünglich ein Archiv für überwiegend schwule Kultur. Es hat eine Weile gedauert, bis wir Lesben uns in diesem Verein sichtbar wurden, Raum genommen haben. Zuvor war das Forum von ca. 2000 bis 2005 in der Müllerstraße 43a ansässig: Es gab ein Büro, einen Archiv-, und einen Veranstaltungsraum. Vierzehn Jahre hat es gedauert, bis wir 2014 auf mein Betreiben hin in der Bayerstraße 77a einen Ort für die Bewahrung von Archivalien aus der Lesbenkultur von der Stadt finanziert bekamen. Ich bin im Jahr 2000, ein Jahr nach Gründung, in den Verein eingetreten. Archivalien und Dokumente von Lesben hatte ich vermisst. Zu dieser Zeit habe ich ein Sachbuch mit dem Titel Zwischen Nachkriegsfrust und Aufbruchslust. Lesbisches Leben in München in den 1950er bis 1970er Jahren. Sieben Biografien geschrieben und Interviews mit Frauen der Generation der Dreißigerjahre, bis in die Vierzigerjahre geführt, um aufzuzeigen, was es damals bedeutet hat, lesbisch zu sein, ein Coming-out zu haben, welche Bedeutung die Frauenbewegung hatte. Dabei fehlten mir immer wieder Dokumente und Unterlagen. Es gab sehr, sehr wenig. Durch meine Arbeit im Forum, aber auch durch Events wie das Lesbenfrühlingstreffen lernten uns Lesben kennen und übergaben uns daraufhin ihre persönlichen Bilder, Gegenstände, Dokumente und Plakate.
Das Lesbenarchiv ist innerhalb des Forums in einem separaten Raum untergebracht, den wir „Raum für Lesbengeschichte“ nennen. Darin steht der Blechschrank in der Ausstellung, dessen Inventar eine Chronik Ereignisse aus der LGB Geschichte widerspiegelt. „LeTRa“ hat uns beispielsweise seine Aktenordner überlassen. Buttons, Tassen und so weiter – alles ganz wichtige Dinge, die verbunden sind mit unserer Vergangenheit, also mit bestimmten Bewegungen wie zum Beispiel dem „Frauenwiderstandscamp“, einem Frauencamp in den Achtziger- bis Anfang Neunzigerjahren als Reaktion zur atomaren Aufrüstung hier in Deutschland. Wenn Männer über Frieden reden, ist es anders konnotiert, als wenn Frauen von Frieden sprechen. Und da gab es einen Slogan: „Was Mann Frieden nennt, ist täglicher Krieg für Frauen.“