Die Frage nach der Bedeutung von Kosmopolitismus in unserer Gesellschaft hat nicht zuletzt durch das Erstarken von rechts-konservativen und nationalistischen Tendenzen eine neue Aktualität erhalten. Anna Schneider ergründet in ihrem Essay die Begrifflichkeit sowie den aktuellen Diskurs und stellt den Bezug zu den Arbeiten der vier Künstlerinnen in der Ausstellung „Innenleben“ her.
Auf den ersten Blick verbindet die vier Künstlerinnen Njideka Akunyili Crosby, Leonor Antunes, Henrike Naumann und Adriana Varejão nicht viel. Sie stammen aus unterschiedlichen Regionen dieser Welt, gehören unterschiedlichen Generationen an, arbeiten in unterschiedlichen Medien und drücken sich in unterschiedlichen formalen Sprachen aus. Auch die Geschichten, mit denen sich die Künstlerinnen in ihren Arbeiten auseinandersetzen, gehen aus unterschiedlichen zeitlichen und geografischen Kontexten hervor, und dennoch – so die These der Ausstellung „Innenleben“ – verbindet die Künstlerinnen ein zentrales Anliegen: Die Frage nach der Bedeutung von Kosmopolitismus in unserer Gesellschaft und damit nach einem Weltbild, das sich mit allen Formen des Daseins in Beziehung, im Gespräch und letztlich auch in der Verantwortung sieht. Mit ausgeprägtem historischen Bewusstsein zeigen die Künstlerinnen das individuelle Verwobensein mit der Welt als Kernherausforderung des Seins. Gerade in der Zusammenschau wird deutlich, dass die konkreten Objekte des Innenraums, sozusagen als räumlich manifestierte Erweiterung des Einzelnen, beziehungsweise dessen psychischer Innenwelt, genutzt werden. Der Innenraum spiegelt die aufeinanderprallenden Zusammenhänge von Identitätsverständnis, von Zugehörigkeit und Abgrenzung, von Geschichtsverstrickung und gesellschaftlicher Zukunftsvision, von nach innen gerichtetem Nationalismus und kulturell offenem Weltbürgertum.
Kosmopolitismus als Idee
Der Begriff des Kosmopoliten taucht erstmals im vierten vorchristlichen Jahrhundert bei den Kynikern auf, die sich in Abgrenzung zu der Auffassung, jeder Mensch gehöre einer der vielen Gemeinschaften an, als freie Bürger des Universums verstanden. Seitdem hat der philosophisch-politische Begriff des Kosmopolitismus (von griechisch κόσμος kósmos „Weltordnung, Ordnung, Welt“ und πολίτης polítes „Bürger“) eine bewegte Geschichte der Bedeutungszuschreibungen und Abgrenzungsversuche erlebt, in dessen Kern die Überzeugung steht, dass weniger Nationalität, Rasse oder Geschlecht, die Identität des Einzelnen bestimmen, sondern die Zugehörigkeit zur Gesamtheit der Welt. Das Konzept grenzt sich somit radikal von Provinzialismus und Nationalismus und auch vom Regionalismus ab. Gleichzeitig unterscheidet es sich vom Begriff der Globalisierung, der primär ökonomische Realitäten beschreibt. Gleichwohl man selbstverständlich anerkennen muss, dass die räumliche, technische und wirtschaftliche Globalisierung der Welt die Anzahl und Komplexität der Beziehungen jedes Einzelnen vervielfältigte.
Aktueller Diskurs um Kosmopolitismus
Im aktuellen kulturwissenschaftlichen und philosophischen Diskurs um Kosmopolitismus, an dem sich Arjun Appadurai, Kwame Anthony Appiah (Making Conversation) oder Paul Gilroy (After Empire. Melancholia or Convivial Culture) aktiv beteiligen, steht die Idee des einladenden Dialogs im Vordergrund: als die zentrale Form, den Herausforderungen, die aus kollidierenden partikularen und universellen Interessen resultieren, zu begegnen.
Die Diskussion um den Begriff hat in der jüngsten Zeit allerdings durch das Erstarken von rechts-konservativen und nationalistischen Tendenzen, die eine explizit anti-kosmopolitische Haltung vertreten, neue Aktualität erhalten. Rechtskonservative beklagen die Bildung „urbaner Eliten“, deren Bindung an ihr jeweiliges Heimatland „schwach sei“ und die dem Narrativ der „Abgehängten“ gegenübergestellt werden (Alexander Gauland: „Warum muss es Populismus sein?“, FAZ am 6. Oktober 2018. Dazu ein kritischer Kommentar von Bodo Mrozek: „Kultur, gut?“, in: Die ZEIT, Nr. 44/19, 25. Oktober 2019 - Zum Artikel). Dass diese Argumentationslinie schon gefährlich nah an der Rhetorik der Nationalsozialisten und der Stalinisten verläuft, die vom „entwurzelten Kosmopoliten“ sprachen (und damit auch ihre antisemitische Agenda meinten), ist unschwer zu erkennen.
So bemühte beispielsweise Alexander Gauland in einem Vortrag Anfang letzten Jahres die von David Goodharts formulierte These von den entwurzelten „Anywheres“, die das kulturelle Leben dominieren, den sesshaften, weniger gebildeten und damit abgehängten „Somewheres“ und den nicht weiter erwähnten „Inbetweeners“. Dass die schematische Einteilung, ein kosmopolites Weltbild mit der Zugehörigkeit zu urbanen Bildungs-, Jetset- oder Hipstereliten gleichzusetzen, viel zu kurz greift, veranschaulicht beispielsweise Bodo Mrozek mit Begebenheiten aus der transkulturellen Popkultur. Er widerlegt die These am Beispiel der Rezeptionsgeschichte des amerikanischen Jazz im Nachkriegsdeutschland, der in den 1950er-Jahren überwiegend von Personen mit wenig formaler Bildung gehört wurde. (Bodo Mrozek: „Das populäre Feindbild der ‚kosmopolitischen Eliten‘“, in: Deutschlandfunk, 29. September 2019 - Zum Artikel) Ähnlich argumentiert Arjun Apparadurai, wenn er von einem Kosmopolitismus „von unten“ spricht: „Was ich als ‚Kosmopolitismus von unten‘ bezeichne, hat mit der privilegierteren Form des Kosmopolitismus den Drang zur Erweiterung des bisherigen Selbst- und Kulturverständnisses und den Wunsch, sich im Namen von Werten, die im Prinzip jedem gehören und unter allen Umständen gelten können, mit einer größeren Welt zu verbinden, gemeinsam. Dieser populäre Kosmopolitismus widersetzt sich auch den Grenzen von Klasse, Nachbarschaft und Muttersprache, aber er tut dies ohne eine abstrakte Bewertung der Idee der Menschlichkeit oder der Welt als einem allgemein bekannten oder durch Wissen erfahrbaren Ort." (Arjun Appadurai: „Cosmopolitanism from Below: Some Ethical lessons from the Slums of Mumbai“, in: The Salon, Band 4)
Das Thema Kosmopolitismus in der Ausstellung "Innenleben"
Doch was hat das mit der Arbeit der in der Ausstellung zusammengeführten Künstlerinnen zu tun? In ihren Werken manifestiert sich die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Hoffnungen, die eine kosmopolitische Haltung mit sich bringt. Die Spannungen, die aus der Geschichte hinein in die Gegenwart wirken, zeigen sich darin genauso, wie das Potenzial, das in der ethischen, sozialen und kulturellen Vision eines planetarischen Bewusstseins der Verbundenheit steckt.
Bei Njideka Akunyili Crosby bietet die eigene global verwobene Biografie, ihre zwischen zwei Kontinenten und Kulturkreisen oszillierende Lebensrealität, eine Anknüpfungsfläche. Die zwangsläufig politisch aufgeladene Liebesbeziehung zwischen ihr, einer in einer nigerianischen Kleinstadt aufgewachsenen schwarzen Frau, und ihrem Ehemann, einem weißen Amerikaner, hält in ihre Arbeit ebenso Einzug, wie ihre Migrationserfahrung und die nach wie vor starke Verbundenheit zu ihrer nigerianischen Heimat. Die Reflexion der eigenen Identität angesichts des Aufeinanderprallens unterschiedlicher familiärer, politischer, (pop-)kultureller Einflüsse und Traditionen sowie die daraus resultierenden Konflikte und Hybride spiegeln sich in ihren präzise komponierten, Architektur und Design einbeziehenden, Raumsituationen unmittelbar wider. Die intimen Szenen und familiären Erinnerungen, die Akunyili Crosbys Räume beherbergen, gewähren – ähnlich wie Henrike Naumanns installative Interieurs – persönliche Einblicke und erzählen dabei Geschichten, die weit über das Private hinausreichen. Aufgewachsen in Zwickau, in der ehemaligen DDR, in den Jahren unmittelbar nach der Wende, verhandelt Henrike Naumann in ihrer Arbeit das Aufkeimen neuer rechter Bewegungen. Sie thematisiert die sich in den Nachwirkungen der Wiedervereinigung Ost-West äußernde Komplexität deutsch-deutscher Geschichte, an die sich Fragen von Zugehörigkeit, Identität und deren Verunsicherung unmittelbar anschließen. Ihre eigens für das Haus der Kunst konzipierte raumgreifende Installation, die Originalmöbel des Hauses aus der NS-Zeit integriert, führt auf beeindruckende Weise vor Augen, wie sich einschneidende wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche, politische Ideologien und Machtstrukturen in Design, Dekoration, Inneneinrichtung und damit in der Intimsphäre des Einzelnen manifestieren. Die Spannung zwischen privatem und öffentlich-politischem Raum, zwischen innen und außen verdichtet sich bei Adriana Varejão in der Darstellung von Saunen und Bädern, aber auch in der Aktivierung der kolonialen Vergangenheit Brasiliens, der Gewalt, die von den Europäern im Zuge des Imperialismus und der Sklaverei auf den individuellen, ebenso wie auf einen gesamten Volkskörper ausgeübt wurde, und eine bis heute offene Wunde hinterließ. Ihre vielschichtigen, anthropologisch informierten Arbeiten spiegeln den transnationalen Austausch, verweisen mit Bezug auf die exotisierenden Kannibalismusfantasien des Westens auf Formen der Einverleibung und Umformung unterschiedlichster kultureller Einflüsse, worauf das moderne Brasilien fußt. Leonor Antunes spürt dem globalen, grenzüberschreitenden Transfer von Menschen und Dingen, der daraus resultierenden Hybridisierung von Form und Idee nach, indem sie, ihrem Interesse an der Genese modernistischen Ausdrucks folgend, imaginative Bezüge herstellt, zu und zwischen Arbeiten und Biografien von Künstlern, Architekten und Designern, deren Leben selbst von Migration, vielfältigen kulturellen Einwirkungen und ästhetischen Einflüssen geprägt war. Ihre im Haus der Kunst präsentierte Skulpturenfolge, die an die durchlässigen Formen tropischer, ebenso wie südamerikanischer, asiatischer oder afrikanischer Architektur erinnert, bringt auf sinnbildhafte Weise die Unmöglichkeit auf den Punkt, klare Konturen zwischen innen und außen auszumachen – und liefert somit eine stellvertretende Antwort auf die um Identität kreisenden Fragen der Ausstellung, die unmittelbar anknüpfen an die gesellschaftlichen und politischen Belange unserer Zeit.
Anna Schneider ist Kuratorin am Haus der Kunst und hat die Ausstellung "Innenleben" kuratiert. Der Beitrag ist ein Auszug aus ihrem Essay zum Ausstellungskatalog, der Anfang April erscheint.