In Kapsel 11 wird unter dem Titel „Zugzwang“ eine umfangreiche Neuproduktion der deutsch-vietnamesischen Künstlerin Sung Tieu (geb. 1987 in Hai Duong, Vietnam) präsentiert, ihre bislang größte und umfassendste Arbeit. Die multimediale Rauminstallation untersucht die psychologischen Auswirkungen von Verwaltungsapparaten und die Politik der daraus resultierenden Design-Ästhetiken.
Tieu nimmt die Inneneinrichtungen von Einwanderungsbehörden, Einwohnermeldestellen und modernen Strafvollzugsanstalten zum Ausgangspunkt. Die Sitzgruppen aus Edelstahl stammen von einem Gefängnisausstatter in England. Die Ähnlichkeit dieser Einrichtungsbestandteile mit der Ausstattung von Wartezimmern in Verwaltungsgebäuden ist auffallend. Der Ausstellungsraum wird von diesen Sitzgruppen, zwei großen, von der Künstlerin entworfenen Regalen, sowie gerahmten Dokumenten beherrscht – Asylanträge, Wohnsitz-Anmeldungen und Einbürgerungsformulare. Basierend auf anthropologischen Studien über den Verwaltungsapparat, hat Tieu die Dokumente bearbeitet und verändert, so dass sie sich keinem bestimmen Staat zuordnen lassen und die zugrundeliegende Logik deutlich wird: worüber ein Antragsteller in einem bestimmten Zusammenhang Auskunft gibt, wird auf mögliche Risiken und künftige Kosten für den Staat geprüft und kann auf diese Weise dem Antragsteller zum Nachteil werden. Dadurch legt Tieu die Widersprüche, Ungereimtheiten und Willkür offen und demonstriert, wie diese Elemente in die Subjektivität des Einzelnen eingreifen – wie sie all jene, die sich den Regeln dieser Räume nicht fügen, zu kontrollieren suchen und in die Grauzonen der Legalität treiben.
Mal intim, dann wieder bombastisch fügt sich eine Mehrkanal-Sound-Installation in diese skulpturale Inszenierung ein: Richard Wagners Ouvertüre zum „Tannhäuser“ bringt Tieu mit Alltagsgeräuschen aus teils öffentlichen, teils privaten Räumen in Berührung: von Tastaturen, Mausklicks, Tuckern, Telefonen und weißem Rauschen. Es entsteht eine vielschichtige Tonlandschaft, in der Gegensätze wie eine elaborierte Komposition von Wagner und Geräusche aufeinandertreffen.
In „Zugzwang“, genauso wie in Tieus weiterer künstlerischer Praxis, werden Themen der nationalen Geschichtsschreibung und der transnationalen Migration von Bevölkerungsgruppen offensichtlich. Das abstrahierte Bild eines Waldstücks, wo die Künstlerin die Grenze von Tschechien nach Deutschland 1992 überschritt, hat sie in große Spiegelelemente eingraviert. Durch das anschließende Einbürgerungsverfahren hat die Künstlerin die Wege der Regulierung kennen gelernt und den Zugzwang, unter den der gewaltige Verwaltungsapparat das Individuum setzt.
Bestehend aus Klang, Texten, Skulpturen, Erinnerungsstücken und objets trouvés, ausgestellt in zwei überdimensionalen Regalen im Zentrum, schafft die Installation einen Raum der Instabilität und legt offen, wie Regierungen führender Industrienationen das Prinzip „form follows function“ pervertiert haben, um zivilen Ungehorsam gegen den bürokratischen Apparat noch vor seiner Entstehung zu verhindern.
Der erste Katalog zu Sung Tieus künstlerischer Arbeit erscheint im Haus der Kunst sowie bei Nottingham Contemporary anlässlich ihrer umfangreichen parallel stattfindenden Einzelausstellungen in Deutschland und Großbritannien.
Kuratiert von Damian Lentini
Ausstellung und Katalog werden großzügig gefördert durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Der Katalog wird außerdem gefördert durch die Henry Moore Foundation und Emalin, London.