Ausgehend vom kunsthistorischen Sujet der Interieurmalerei versammelt „Innenleben“ mit Njideka Akunyili Crosby, Leonor Antunes, Henrike Naumann und Adriana Varejão vier Künstlerinnen, die in ihrem Werk dem Verhältnis von Innen und Außen nachspüren.
Trotz der formal divergierenden Arbeitsweise der vier Künstlerinnen und ihrer völlig unterschiedlichen kulturellen wie sozialen Herkunft, verbindet sie alle ein zentrales Anliegen: die Frage nach der Bedeutung von Kosmopolitismus in der heutigen Gesellschaft. Mit ausgeprägtem historischen Bewusstsein zeigen die Künstlerinnen ihr Verwobensein mit der Welt auf und arbeiten die Auseinandersetzung mit globaler Geschichte als eine der zentralen Herausforderungen des Jetzt heraus. Den inhaltlichen Bezugspunkt und die gemeinsame visuelle Referenz bilden dabei die konkreten Elemente des Innenraums. Im Innenraum als Keimzelle treffen Zugehörigkeit und Abgrenzung, nach innen gerichteter Nationalismus und kulturell offenes Weltbürgertum, Verstrickung in Geschichte und gesellschaftliche Zukunftsvision aufeinander.
Alle vier Künstlerinnen sind international etabliert und ihre Werke hochaktuell. Gerade in diesem Jahr, zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls, hat Henrike Naumann eine Vielzahl an Präsentationen und erhält große mediale Aufmerksamkeit. Njideka Akunyili Crosby und Leonor Antunes werden auf internationalen Biennalen gezeigt und von namhaften Institutionen in Einzelausstellungen gewürdigt. Adriana Varejão wird bereits als eine der wichtigsten Positionen brasilianischer Gegenwartskunst angesehen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Arbeiten von Njideka Akunyili Crosby und Adriana Varejão erstmals in musealem Rahmen in Deutschland präsentiert werden.
Njideka Akunyili Crosby
Njideka Akunyili Crosby (*1983 in Enugu, Nigeria) verhandelt in ihren meist großformatigen, dynamisch gemusterten und farbkräftigen Gemälden auf Papier das komplexe kulturelle Terrain, das sich aus einem Leben zwischen zwei Welten – ihrer Wahlheimat Amerika und ihrer Heimat Nigeria – formt. Inspiriert von Fotografie, Mode, Architektur und Design sowie ihrer eigenen Familiengeschichte zeigen Akunyili Crosbys Werke oft häusliche Räume. Die Szenen auf ihren Gemälden sind privater Natur, die Erinnerungen familiär – und doch weisen sie über den persönlichen Einblick und die private Sphäre hinaus und visualisieren ein neues afropolitisches Lebensgefühl. Auf subtile Weise entfaltet sich die politische Aufgeladenheit der Liebesbeziehung zwischen ihr, einer Nigerianerin, und einem weißen US-Amerikaner. Mehrfach taucht das Motiv des Sichtschutzes auf, der die beiden zärtlich einander zugewandten Partner im Inneren vor Blicken von außen schützen soll. Crosby entwickelte für ihre Werke eine eigene Drucktechnik mit Aceton, die es ihr erlaubt Malerei, Collage und Fotografie auf faszinierende Weise zu verbinden. Sie ist mit elf, teils mehrteiligen Werken vertreten, darunter eine neue Produktion eigens für diese Ausstellung.
Leonor Antunes
Für Leonor Antunes (*1972 in Lissabon, Portugal) stehen Migration und Transformation von Formen und Ideen, ihre Ausbreitung über zeitliche und geografische Grenzen hinweg im Zentrum. Ausgangspunkt für ihre eleganten Skulpturen und Interventionen ist die Auseinandersetzung mit Kunst, Design und Architekturgeschichte. Vor allem das gesellschaftstransformierende Potential der Moderne stellt eine Inspiration für sie dar; Künstlerinnen und Architektinnen der 1950er- und 1960er-Jahre, denen nicht zuletzt aufgrund ihres Geschlechts vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wurde, sind mit ihren Vornamen oder Initialen in Antunes‘ Werktitel sowie in ihrer formalen Sprache gegenwärtig: Anni Albers, Ruth Asawa, Lygia Clark, Franca Helg, Eva Hesse u.a.m. Die Zitate sind bei Antunes jedoch nicht als herkömmliche Hommage zu deuten, ihre Verweise unternehmen vielmehr den Versuch, sich mit einer anderen Zeit und den Wegbereiterinnen spezifischer Ästhetiken zu verbinden. Ihre Werkgruppe „discrepancies with C.S.“ (2017) besteht aus von der Decke herabhängenden Lichtelementen und ruft den italienischen Modernisten Carlo Scarpa in Erinnerung, ohne dessen Schöpfungen aus Muranoglas in irgendeiner Weise zu gleichen. Mit „alterated climbing form (I,II,III)“ (2017) wiederum hat Antunes die „Climbing Form“ der Mary Martin aus dem Jahr 1954 in ihr eigenes Werk integriert. Die vielteilige Skulptur aus Messingplatten und Seilen steigt, den nach Halt suchenden Ranken einer Kletterpflanze ähnelnd, hoch in den Raum. „discrepancies with A.A.“ (2019) rhythmisiert in Anlehnung an Anni Albers‘ Textilmuster korkfarben und schwarz eine weite Bodenfläche.
Adriana Varejão
In Adriana Varejãos (*1964 in Rio de Janeiro, Brasilien) Werk geht es nicht nur um die Präsenz der von Gewalt geprägten Kolonialgeschichte Brasiliens. Ihre vielschichtigen, anthropologisch informierten Arbeiten spiegeln den transnationalen Austausch, verweisen mit Bezug auf die exotisierenden Kannibalismus-Fantasien des Westens auf Formen der Einverleibung und Umformung unterschiedlichster kultureller Einflüsse, auf denen das moderne Brasilien fußt. Durch ihre vielgestaltigen, unter anderem von der Architektur des Barock inspirierten Arbeiten zieht sich die Keramikfliese als wiederkehrendes formales Element. Was optisch als bemalte Kachel nach der Art, wie sie während der arabischen Herrschaft in Spanien von marokkanischen Handwerkern gefertigt wurde, erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als auf Leinwand gemalt. Vielfach verwendet Varejão das Motiv der Mauer, der Grenze zwischen Innen und Außen. Dennoch zeugen ihre imposanten Skulpturen ebenso wie ihre Zeichnungen und teilweise in den Raum greifenden Ölgemälde von Durchlässigkeit. Die Werke evozieren organische Kräfte, konfrontieren die Betrachterinnen und Betrachter mit physischen (Aus-)Brüchen und wecken dabei Assoziationen von Schmerz und Verwundbarkeit. Auch Varejão ist neben bereits existierenden Arbeiten mit drei Neuproduktionen eigens für die Ausstellung vertreten.
Henrike Naumann
Die ausgebildete Bühnen- und Kostümbildnerin Henrike Naumann (*1984 in Zwickau, Deutschland) beschäftigt sich in ihren Rauminstallationen mit der deutsch-deutschen Vergangenheit und rechtsextremer Ideologie. Sie erkundet dabei unter anderem, wie sich die Mechanismen der Radikalisierung in den eigenen vier Wänden manifestieren. Dabei hat ihr Interesse auch eine autobiografische Komponente: In Ostdeutschland aufwachsend erfuhr Henrike Naumann rechtsextreme Ideologie als dominante Jugendkultur der 1990er-Jahre. Ihre Installationen transformieren diese Erfahrungen in scharfsinnige Analysen.
Für das Haus der Kunst hat sie eine neue Rauminstallation (zu der auch eine neue Videoarbeit gehört) mit dem Titel „Ruinenwert“ entwickelt. Der Titel stellt den Bezug zu einer Rede von Albert Speer aus den 1930er-Jahren her; Speer hatte damals die Vorstellung geäußert, Repräsentationsbauten des faschistischen Deutschland sollten ihren Zeugnischarakter bis weit in die Zukunft, über ihre eigene Zerstörung hinaus bewahren. Ruinen und Burgen bilden für Neonazis heute Versammlungsorte und Kulisse ihrer Treffen. Gleichzeitig zitiert „Ruinenwert“ Hitlers Berghof am Obersalzberg, der wie das ehemalige ‚Haus der Deutschen Kunst‘ ein Repräsentationsbau der Nationalsozialisten war. Die versenkbaren Monumentalfenster in dessen Großer Halle gaben einst den Blick auf das Bergpanorama frei. An die Stelle des Alpenpanoramas tritt in Naumanns Installation, die die Besucher durch den nachgebildeten Kamin des Berghofs betritt, ein Ensemble aus gebrauchten Möbeln der 1990er-Jahre. Während in „Ruinenwert“ die Spuren der überdimensionalen Architektur der Nationalsozialsten mit kleinteiligen Details der ursprünglichen Inneneinrichtung des ‚Haus der Deutschen Kunst‘ zusammenfallen, führt die Arbeit auf beeindruckende Weise vor Augen, wie sich politische Ideologien und Machtstrukturen in Design, Dekoration und Inneneinrichtung manifestieren.