Gekürzte Version. Den ungekürzten Text finden Sie im Katalog zur Ausstellung „Rebecca Horn“.

Stockholm, 19. Januar 2024

Liebe Rebecca Horn,

ich bin mir nicht sicher, ob Sie diesen Brief lesen werden. Es ist jedoch wichtig, Ihnen von der Resonanz auf Ihr Werk zu berichten. Ihr seltsames, großartiges, schwer fassbares und fesselndes Werk. Ich wollte einen Aufsatz für diesen Katalog schreiben, mit dem Titel „Körper. Partitur. Objekt“, und darin die verschlungenen Beziehungen zwischen diesen drei Begriffen in Ihren Performances, Zeichnungen und Skulpturen herausarbeiten. In gewisser Weise folge ich in meinem jetzigen Schreiben der Logik von Körper, Partitur und Objekt, aber ich habe auch erkannt, dass ich eine andere Form der Ansprache brauche – persönlicher, mit Raum für intime Reflexionen und vielleicht sogar das eine oder andere Geständnis, einen Raum, in dem die Arbeit nicht historisiert, sondern immer wieder gelebt und gefühlt wird.

Ich möchte die Federn auf meiner Haut spüren.

[…]

Hochachtungsvoll,

Hendrik

Eine Person hält sich weiße Federn vor den Kopf.
Rebecca Horn, „Kakadu-Maske“ (1973), in „Performances II“, 1973, Filmstill, © Rebecca Horn und VG Bild-Kunst Bonn 2024

Stockholm, 21. Januar 2024

Liebe Rebecca Horn,

ich betrachte Ihre Performances, schaue sie mir immer und immer wieder an. Sie verändern meinen Blick auf die Konturen eines Körpers; diese dünne, fast nicht vorhandene Linie, wo ein Körper endet und die Welt beginnt. Diese Linie vibriert und beginnt sich langsam aufzulösen. Körperfarben zieht mich in seinen Bann. In Stop-Motion-Sequenzen bemalen Sie einen weiblichen Körper. Zunächst gleiten rote Farbschwaden an den Füßen, Knöcheln, Waden, Knien, Beinen, Oberschenkeln und Hüften der Frau hinauf, um sich gleichzeitig von ihren Händen aus über ihre Handgelenke, Unterarme, Ellbogen, Bizeps, Achselhöhlen und die Spitze ihrer Schulter zu verbreiten, bis nur noch ihr Oberkörper und ihr Kopf unbedeckt sind. Die Farbe glänzt, sie wird teilweise bionisch. In einem weiteren Video werden ihr Oberkörper und Kopf mit blauen Punkten betupft, bis fast keine Haut mehr zu sehen ist. Ich denke an „Glitschen“. Es gibt ein Performance-Video, gegen das ich mich zunächst auflehne. Ich sehe einen Körper von hinten, der in einem pechschwarzen Raum steht und sich langsam in schwarze Farbe zurückzieht. Die Farbe nähert sich der Wirbelsäule, der Spalte zwischen den Pobacken und dem Spalt zwischen den Beinen. Während sich ihr Körper in zwei Teile spaltet, verzehrt die Farbe die Hälften, bis sie ineinander verschwinden. Das ist der Stoff, aus dem Albträume sind, denke ich, während ich dies irrtümlich für einen Akt der Auslöschung halte. Wenn überhaupt, dann ist es, wie bei den anderen Videos, ein Akt des Sichtbarmachens.

In der Tat, ein Körper entsteht. Ein Körper, der weiß – der nicht auf die Natur beschränkt ist, sondern der einen Raum des Wissens bildet. Der große Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty lehnte die kartesianische Trennung zwischen Körper und Geist ab und ebnete den Weg für eine große Feministin wie Elizabeth Grosz. In ihrem Buch Volatile Bodies von 1994 fasst sie ihre These vom „körperlichen Feminismus“ zusammen. Wenn ich sehe, wie in Körperfarben ein Körper verschwindet und ein anderer auftaucht, denke ich daran, wie Grosz Merleau-Ponty paraphrasiert: „Durch den Leib erscheint mir die Welt der Objekte; nur weil ich einen Leib habe oder ein Leib bin, gibt es Objekte für mich.“ Durch den Körper erscheint mir die Welt der Kunst, und nur weil ich einen Körper habe oder ein solcher bin, gibt es Kunst für mich.

Mit bewundernden Grüßen,

Ihr Hendrik

[…]

Stockholm, 26. Januar 2024

[…]

Es ist verlockend, diese Objekte als Attribute zu betrachten, als Göttinnen und Götter, die Ihre Welt mit ihren jenseitigen Accessoires bewohnen. Doch mit Einhorn (1970–1972) werden diese Objekte weltlicher und es tauchen andere Worte auf.

Mechanisch

Prothese

Erweitert

Verstärkt

Kinetisch

Durch die Hörner, Federn, Textilflügel und Stabfinger wird der Körper tatsächlich mechanisiert, erweitert, vergrößert und dehnt sich schließlich aus. Ein Cyborg im Entstehen, fast fünfzehn Jahre bevor Donna Haraway ihr einflussreiches Manifest über den Cyborg als „zerlegtes und neu zusammengesetztes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst“ veröffentlichte und fortfuhr: „Es ist das Selbst, das Feministinnen kodieren müssen.“ Ich glaube, Sie sind eine der Hauptautorinnen dieses Manifests.

Sie waren nicht die Einzige. Ihre Künstlerkollegin Ulrike Rosenbach hat die Videokamera bei Live-Performances an ihren Körper gebunden und das Bild in Echtzeit auf einen Monitor im Raum zurückgespielt. VALIE EXPORT versetzte ihren Körper in ein berührungsfähiges Kino. Jenseits des Atlantiks klebte Hannah Wilke Kaugummimasse in Vaginaform auf ihren Körper, die ihren Körper markierten und Notsignale sendeten. Senga Nengudi verlängerte ihren Körper, machte ihn durch ihre Strumpfhosen-Skulpturen elastisch, skulptural, architektonisch.

Sie, ebenso wie jene: Künstler*innen, die wissen, dass der Körper weiß, die den Körper als einen Ort der Wissensproduktion ansehen, die wissen, dass Objekte in Beziehung zu diesem Körper existieren. Dies sind die Dinge, die passieren, bevor der Philosoph Paul B. Preciado (damals Beatriz Preciado) ein Dreivierteljahr lang Testosteron nimmt, was er akribisch in seinem Buch Testo Junkie: Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie (frz. 2001) dokumentiert, um zu untersuchen, wie ein Körper und sein Geschlecht durch die Objekte und Industrien des Begehrens (neu) konfiguriert werden. Das Objekt wird zum Subjekt gemacht, verinnerlicht und verstoffwechselt – um die Tatsache zu „akzeptieren, dass die Verwandlung, die sich in mir ereignet, die Metamorphose einer Epoche ist“.

Als das gigantische Horn in Kopf-Extension (1972) auf den Kopf des Performers montiert wird, muss sich sein Körper anpassen. Er schwankt, ist zwar noch mit dem Boden verbunden, aber instabil.

Die Schwelle zwischen dem Körper und seinen Prothesen ist gefährlich, aufregend.

Mit Hochgefühl,

Hendrik

Frau steht nackt in einem Kornfeld und trägt ein riesiges Horn auf dem Kopf.
Rebecca Horn, „Einhorn“ (1970–1972), in; „Performances II“, 1973, Filmstill. © Rebecca Horn und VG Bild-Kunst Boonn 2024

Stockholm, 28. Januar 2024 

[…]

Ich biege das Papier des Buches, in dem ich auf die Partitur von Der Eintänzer stoße, denn es handelt sich nicht um einen flachen Acker zum Pflügen oder einen Felsen zum Klettern, sondern um einen Tango zum Tanzen. Das Papier erwacht zum Leben. Mein ganzer Körper sammelt sich zum Lesen, von den Füßen bis zum Schädel, so wie ich mir vorstelle, dass Sie Ihren gesammelt haben, als Sie dies zeichneten, als Sie dies schrieben, und ich trete in dieses choreografische Panorama ein. Während ich den Linien folge und zwei Schritte rückwärts mache, mich umdrehe, einen Schritt zur Seite, zwei vorwärts gehe und mich wieder umdrehe, verschwindet die Unterscheidung zwischen meinem Körper und diesen Objekten. Sie sind nicht diskret.

Sie haben damit begonnen, die Oberfläche des Fleisches zu bemalen, Gliedmaßen mit Objekten zu manipulieren und sie zu verlängern, Objekte zu Körpern hinzuzufügen, damit sie sich gemeinsam bewegen. Sie haben mit Körpern gearbeitet, bis Ihre Skulpturen zu Körpern wurden.

[…]

New York, 9. Februar 2024

Liebe Rebecca,

gestern ist etwas ganz Wunderbares passiert. Ich kam in New York an, der Stadt, die Sie einst Ihr Zuhause nannten. Benommen und verwirrt vom Jetlag, bog ich an der Ecke Walker Street und Broadway links ab und sah ein Ei auf der Straße! Kein Straußenei, sondern ein normales Ei. (Vermutlich kann man nicht alles haben.) Einen Moment lang dachte ich, ich hätte Halluzinationen, also machte ich ein Foto. Es war höchst erstaunlich, dass dieses wertvolle Objekt nicht sofort zertrampelt wurde. Ich beobachtete es einige Augenblicke lang: Alle nahmen es zur Kenntnis, gingen vorsichtig darum herum, und ihr Pfad war für immer davon geprägt. Das Ei muss schon eine Weile dort gelegen haben. Haben Sie es dorthin gelegt?

Liebevoll,

Hendrik