Text und Sprache sind fortwährende Elemente in Sung Tieus künstlerischer Praxis. Im Zusammenspiel von autobiografischen Erlebnissen, zeitpolitischem Geschehen und frei Erfundenem entstehen außergewöhnliche Textarbeiten, die derzeit in der Ausstellung „Sung Tieu. Zugzwang" im Haus der Kunst zu sehen sind.
In Form von Zeitungsartikeln und Nachrichten verfasst Sung Tieu, die 1987 in Hai Duong, Vietnam geboren wurde und in Berlin und London lebt, eigene fiktionale Texte. Sie basieren oftmals auf Archivmaterialien und Dokumenten, die sich als Teil vielschichtiger Erzählungen subtil in ihre multimedialen Rauminstallationen einfügen.
Mit Zugzwang (2020) hat Tieu für die Südgalerie des Haus der Kunst eine imposante und beklemmende Architektur in Form einer Büroumgebung entwickelt. Themen wie (europäische) Migrationspolitiken und die Machtstrukturen bürokratischer Verwaltungsapparate werden darin nicht nur auf der Ebene von Sound und Skulptur adressiert, sondern finden sich auch in fiktionalen Zeitungsartikeln sowie einer umfassenden Studie mit modifizierten Behördenanträgen wieder.
Schach oder die Konstruktion von Identität in bürokratischen Prozessen
Scheinbar unschuldig hängen aufgereiht an den Längsseiten des Ausstellungsraumes insgesamt 31 A4-Dokumente in schlichten Aluminiumrahmen: ein zehnseitiger Asylantrag, ein Meldeschein sowie ein zwanzigseitiger Antrag auf Staatsbürgerschaft. Für die umfangreiche Arbeit Alekhine‘s Defence (2020) hat Tieu die Dokumente nicht einfach als Readymade an der Wand platziert, sondern diese zuvor bearbeitet. So hat sie die Fragen beispielsweise in ein eigenes Design überführt und jede Referenz auf bestimmte Staaten entfernt, sodass es sich nun um Behördenformulare aus jedem beliebigen Land handeln könnte. Auf jedes einzelne Dokument ist zudem mit feinen Bleistiftstrichen ein Schachbrett samt Spielfiguren gezeichnet. Liest man sie von links nach rechts, so wird Zug um Zug der Verlauf einer Schachpartie nachvollziehbar.
Zum Großteil hat Tieu die Fragen aus tatsächlich existierenden Anträgen übernommen und nur minimal verändert. Dabei bleibt jedoch offen, wo genau die Künstlerin tatsächlich eingegriffen hat. Die intimen biografischen Details, die die Dokumente schonungslos abfragen sowie den Raum, den die Formulare für bestimmte Antworten (nicht) gewähren, verdeutlichen die Einflussnahme des bürokratischen Staatsapparates auf die antragstellenden Individuen.
„[E]s ist ein Klassifikations- und Identifikationssystem, das die Antwort fast immer schon vorwegnimmt“, stellt die Künstlerin im Interview mit Cédric Fauq und Damian Lentini im ausstellungsbegleitenden Katalog fest. Für sie ist die Bürokratie eine „[…] gesichtslose Tyrannin, die einem die Verpflichtung auferlegt, bestimmte Informationen einzutragen, ohne dass man in einen kritischen Dialog treten oder Rückfragen stellen könnte.“ Die Antragsteller*innen sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, ihre individuellen Erfahrungen und biografischen Details beim Ausfüllen dieser Dokumente strategisch so zu präsentieren, dass sie den standardisierten Anforderungen des (National-)Staates entsprechen: Welchen Teil meiner Geschichte hebe ich hervor, wenn ich in einem Land beispielsweise Asyl beantrage? Welchen verschweige ich lieber, damit er mir nicht zum Nachteil ausgelegt wird? Welche Position nehme ich ein, um mein Ziel zu erreichen?
Hier scheinen performative Aspekte von Sprache auf, wie sie J.L. Austin in seinen sprachphilosophischen Vorlesungen theoretisierte, die er 1955 unter dem Titel How to do things with words an der Harvard University hielt (Oxford, 1973). Er stellte fest, dass mit sprachlichen Äußerungen auch Handlungen vollzogen werden und es neben konstatierenden auch performative Äußerungen gibt. Mit ritualisierten Sprechakten wie beispielsweise dem Ausspruch von Standesbeamt*innen „Ich erkläre Sie hiermit zu Mann und Frau“ werde eine neue Tatsache geschaffen, bekräftigt durch eine Unterschrift auf einem behördlichen Dokument. Dementsprechend sind performative Sprechakte wirklichkeitskonstituierend, indem sie soziale, ökonomische und juristische Wirklichkeiten herstellen, wie es auch Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen (Frankfurt am Main, 2004, S. 31) mit Bezug auf Austin beschreibt.Tieus Alekhine’s Defence führt diese Realitätswirksamkeit eindrücklich vor Augen: Das, was wir in das Dokument eintragen und was wir im Gespräch mit Beamtinnen oder Beamten erzählen, wird Teil unserer sich immer wieder neu konstituierenden Identität. Gleichzeitig wird jedoch mittels der Dokumente versucht, diese Handlungsmacht einzuschränken, indem darin durch suggestive Fragestellungen oder limitierte Ankreuzmöglichkeiten gezielt Einfluss auf die Antworten genommen wird.
Darüber hinaus machen die Dokumente auf die Ausgrenzungspraxis des rassifizierten Othering in amtlichen Prozessen aufmerksam, bei der soziale Ungleichheiten mittels behaupteter Unterschiede (re-)produziert werden, um Machtpositionen aufrechtzuerhalten. Dementsprechend ist das Wissen, das diesen amtlichen Formularen zugrunde liegt, nur vermeintlich objektiv: Mit Hilfe von Gesetzen versucht die Bürokratie Zugangsvoraussetzungen sowie die Entscheidung über diese Zugänge zu objektivieren, die grundsätzlich extrem individuell und subjektiv sind. Tieu hat sich im Rahmen der Entstehung von Zugzwang eingehend mit anthropologischen Studien zu verschiedenen Behördenanträgen im Asylprozess befasst. Die künstlerische Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse zeigt indes auf ganz eigene Weise, dass es in diesem machtvollen Spiel mit Erwartungshorizonten und Identitätsfiktionen nur Verlierer*innen gibt: Mit der von ihr gezeichneten Schachpartie bezieht sich Tieu auf ein Turnierspiel zwischen Agustin Freyria und Carlos Torre Repetto in Mexiko-Stadt von 1926. Torre Repetto, der als Kind mit seiner Familie 1915 von Mexiko in die USA emigriert war, gewann diese Partie und damit den mexikanischen Meistertitel. Doch der Triumph sollte nicht lange anhalten: Noch im selben Jahr sah er sich gezwungen, seine Schach-Karriere nach einem Nervenzusammenbruch für immer aufzugeben. Angeblich erlitt Torre Repetto besagten Nervenzusammenbruch, nachdem ihm ein zuvor versprochener Lehrauftrag an der National University of Mexiko abgesagt wurde und ihn gleichzeitig die Nachricht seiner Verlobten erreichte, sie hätte jemand anderen geheiratet, wie David Hooper und Kenneth Whyld in The Oxford Companion to Chess anführen (London und New York, 1992, S. 425).
Im Schach liegt auch der Titel der Arbeit begründet: Alekhine’s Defence ist eine nach dem Schachweltmeister Alexander Alekhine benannte Eröffnung einer Schachpartie, bei der es darum geht, den König in eine möglichst sichere Position zu bringen. Torre Repetto wandte diese Taktik auch im Spiel gegen Freyria an, was ihm letztlich zum Sieg verhalf. Tieus Kunstwerk bringt diese Verteidigungsstrategie mit derjenigen des bürokratischen Staatsapparates zusammen und zeigt auf, wie dieser sich im Aslyprozess gegen zu viele Bewerber*innen „verteidigt“. Auch„Zugzwang“ bezeichnet im Schach eine Spielsituation, die eigene Spielfigur in eine für sich selbst nachteilige Position ziehen zu müssen. Asylbewerbende beziehungsweise alle Personen, die den Machtstrukturen des bürokratischen Apparates ausgesetzt sind, sehen sich wiederholt mit dieser nachteiligen Position konfrontiert: „Es ist so, als ob man bereits mit Wunden übersät in ein Spiel eintritt“, so Tieu.
Autofiktion im Zeitungsformat
Das Ineinandergreifen von Realität und Fiktion begegnet uns in weiteren Textarbeiten als Teil von Zugzwang: Eher unauffällig in einem der Regale, an der Magnetwand und auf dem Schreibtisch platziert, finden sich insgesamt drei fiktionale Zeitungsartikel. Manning the Deck, Citizen of Nowhere und Borders 2.0 (alle 2020) sind eine Fortsetzung von Tieus Werkreihe Newspaper 1969–ongoing.
Bereits in früheren Ausstellungen wie Loveless (2019) oder Parkstück (2019) hatte Tieu selbst verfasste Zeitungsartikel nebst Getränke- und Essensverpackungen auf Gefängnismöbeln verteilt und diese Textarbeiten somit, wie auch bei Zugzwang, fast beiläufig in ihre skulpturalen Arbeiten integriert.
Es wirkt, als hätte gerade noch jemand am Schreibtisch gesessen und gelesen, die Zeitungsartikel scheinbar zufällig (und doch gut lesbar für das Ausstellungspublikum) im Regal abgelegt, oder sie vor längerer Zeit an die Magnetwand geheftet und schon fast wieder vergessen. Durch diese vermeintliche Beiläufigkeit fügen sie sich perfekt in die räumliche Narration ein und weisen zugleich über das Museum hinaus. Die Geschichten funktionieren wie ein Fenster zur gesellschaftlichen Außenwelt und erweitern den Ausstellungsraum mittels fiktiver Narration um eine weitere gedankliche Ebene.
Tieus Artikel erzählen von Migration, Marginalisierung, bürokratischer Macht und kultureller Identität. Manning the Deck beispielsweise handelt von einem gewissen Mr. Stevens, der kurz vor seiner Pensionierung stehend als Abgeordneter in Brüssel an der Dublin II-Verordnung mitgearbeitet hatte und die Regeln seines mächtigen Arbeitgebers stets unhinterfragt befolgte. Die Figur des Mr. Stevens nimmt Anleihen an der gleichnamigen Hauptfigur aus dem Roman The Remains of the Day von Kazuo Ishiguro aus dem Jahr 1989. Der Artikel Citizen of Nowhere handelt von einem wohl situierten multinationalen Elternpaar, deren Tochter in London lebt und aufgrund eines behördlichen Fehlers staatenlos wurde. Der dritte Artikel mit dem Titel Borders 2.0 handelt von dem zunehmenden Einsatz vermeintlich neutraler Technologien im Asylbewerbungsprozess.
Anhand der Zeitungsartikel wird Tieus Anspielen auf Autobiografisches sehr deutlich. Das Leben in einer Unterkunft für Asylbewerber*innen in Berlin Hohenschönhausen thematisiert im früheren Zeitungsartikel Inside the Block (2019) ihr Aufwachsen in der vietnamesischen Diaspora im ehemaligen Ostberlin der 1990er Jahre sowie Tieus beinahe nomadisches Leben zwischen Berlin und London finden nicht nur mittels Fotos und Erinnerungsstücken, sondern auch auf der textuellen Ebene Eingang in die Gesamtnarration der Ausstellung. Die Zeitungsartikel sind dementsprechend nie per se Fiktion, sondern komponieren scharfsinnig zeitpolitisches Geschehen, frei Erfundenes und autobiografische Fakten zu einer individuellen Geschichte. Die vietnamesische Filmemacherin und Theoretikerin Trinh T. Minh-ha fasst diese Praxis des Verwebens von Fakt und Fiktion unter der Überschrift A sketched window on the world in ihrer Monografie Woman, Native, Other (1989) folgendermaßen:
"It is said that the writer’s choice is always a two-way choice. Whether one assumes it clear-sightedly or not, by writing one situates oneself vis-á-vis both society and the nature of literature, that is to say, the tools of creation. […] Neither entirely personal, nor purely historical, a mode of writing is in itself a function. An act of historical solidarity, it denotes, in addition to the writer’s personal standpoint and intention, a relationship between creation and society." (Trinh T. Minh-ha: Woman, Native, Other. Writing Postcoloniality and Feminism, 1989, S. 20)
Tieu selbst bezeichnet diese Herangehensweise als ‚Autofiktion‘, ein Begriff, der sich in der Gegenwartsliteratur mittlerweile ebenso etabliert hat wie in der zeitgenössischen Kunst. Er beschreibt „eine Technik, das Ich als einen Spiegel einzusetzen, der das Nachdenken über die privatesten und emotionalsten Aspekte des eigenen Lebens unmittelbar auf die Außenwelt zurückwirft, die dieses Ich geprägt hat“, wie die Herausgeberinnen von Texte zur Kunst im Vorwort zur Ausgabe Literatur anführen (Texte zur Kunst, Nr. 115, 09/2019, S. 6). Tieus sprachliche Werke, ebenso wie die Edelstahl-Skulpturen mit ihren spiegelnden Oberflächen, regen immer wieder zur (Selbst-)Reflexion an. Sie machen offensichtlich, dass es insbesondere migrantisch und post-migrantisch situiertes Wissen vermag, mehrheitsgesellschaftliche Sicht- und Handlungsweisen infrage zu stellen und vermeintliche Gewissheiten über das „Wir“ und die „Anderen“ ins Wanken zu bringen. Die autofiktionale Gesamtnarration der Ausstellung wird zu einem Werkzeug, gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuzeigen und ihnen alternative Geschichten und Wissensformen entgegenzustellen.
Hierbei gelingt es Tieu, Teile der eigenen Geschichte in die Gesamtnarration ihrer künstlerischen Arbeit einzuflechten, ohne diese unvermittelt zur Schau zu stellen. Vielmehr nimmt sie ihre Erfahrungen als Ausgangspunkt, um vom eigenen Standpunkt zu abstrahieren und gesellschaftliche Strukturen zu thematisieren. Indem Tieus künstlerische Arbeiten bereits Bekanntes – wie Behördenanträge oder tagespolitische Nachrichten in Form von Zeitungsartikeln – aus einem marginalisierten Blickwinkel zeigen, entfalten sie ihr widerständiges Potenzial und ermöglichen es, neue Perspektiven auf die Welt zu entwickeln.
Lisa Paland ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin und arbeitet derzeit als Wissenschaftliche Volontärin am Haus der Kunst. An der Ausstellung "Kapsel 11: Sung Tieu. Zugzwang" war sie als kuratorische Assistenz beteiligt.