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Der in ein weißes Gewand gehüllte Körper von Heidi Bucher befindet sich im Moment des Häutens der Wände, ausgeführt im einstigen Herrenzimmer ihres Vaters im verlassenen großbürgerlichen Elternhaus in Winterthur, in starker physischer Anspannung (1978; Abb. 1). Die Materialfülle der sich von den Wänden lösenden Latexabzüge umgibt Bucher auf fotografischen und filmischen Aufzeichnungen ihrer historischen Häutung wie die Flügel einer Libelle, die sich über ihre eigene Vergangenheit erhebt. Bucher hat in ihrem Manifest „Parkettlibelle“ ihre künstlerische Arbeit als einen „Metamorphosenprozess“ bezeichnet, bei dem die Loslösung sozialer Konditionierungen mit einer Aufweichung und Mobilisierung von Gegenständen – eben statischer Verhältnisse – einhergehen würde. Bucher lenkte den Blick auf den Körper im Raum, dem dynamische Beziehungen widerfahren und sich Erlebnisse, Emotionen und Affekte einschreiben.
In den ersten Häutungsaktionen der 1970er-Jahre manifestiert sich Buchers zukünftige Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und der Psyche im Kontext von privaten wie öffentlichen Lebensräumen, von gesellschaftlichen wie auch geschlechtlichen Normen und Konditionierungen. Ihr Hauptwerk setzte nach der Rückkehr von einem mehrjährigen Aufenthalt mit ihrer Familie in Kanada und den USA sowie der Trennung von Carl Bucher im Jahr 1973 ein. Bucher, die damals auf die fünfzig zuging, wandte sich ab diesem Zeitpunkt Gegenständen und Orten zunächst aus der eigenen Familiengeschichte zu, dem Haus der Ingenieursfamilie.
Das Haus als Ort, der Schutz und Orientierung bietet, war zugleich von patriarchalen Strukturen definiert, wie sich anhand der geschlechtlich zugewiesenen Lebens- und Arbeitsbereiche nachvollziehen lässt. Frauen wurden durch häusliche und familiäre Verpflichtungen systematisch von einer Teilhabe am öffentlichen Leben ausgeschlossen. Die Unwiederholbarkeit der Aktion, jenseits ihrer medialen Aufzeichnung, mündete in einen dauerhaft anmutenden – wenn auch tatsächlich, dem Material geschuldet, vergänglichen – Zustand in Gestalt schließlich ortsungebundener, raumgreifender Installationen der Latexhäute wie etwa bei „Herrenzimmer“ (1978; Abb. 2). Mit der Herauslösung der Architektur aus ihrem ursprünglich statischen Kontext wurde zugleich die künstlerische Handlung selbst ausgestellt.
Doch zuvor arbeitete Heidi Bucher an dem von ihr so benannten Ort Borg, ihrem eigenen Atelier in einer ehemaligen Metzgerei in der Züricher Weinbergstrasse. Dort vollzog sie am Eingang ihre erste architektonische Latexabnahme mit „Borg“ (1978; Abb. 3). Den Namen Borg leitete sie von „Ge-borg-enheit“ ab; sie schuf sich damit eine Art von persönlichem Schutzraum, in dem zwischen 1973 und 1978 in Form der „Einbalsamierungen“ und „Weichobjekte“ eine Bilderwelt zur Aufarbeitung weiblicher Unterdrückung entstand. Bucher arrangierte textile familiäre Fundstücke wie Unterwäsche, Kinder- und Frauenkleider oder Bettdecken, überzog diese oft mehrfach mit Schichten von Latex und ergänzte sie um in der Kombination zunächst surreal erscheinende Motive wie Muscheln. Es folgte die Bearbeitung der Oberflächen aus Latex mit Farbpigmenten von Perlmutt, Lila oder Gold, was die Werke zunächst vermeintlich der Realität enthob, aber vielmehr neue Deutungssphären eröffnete.
Bucher begann damals auch ihre Objekte mit dem Signet eines Fisches zu versehen– eine bewusste Anspielung auf die Symbolsprache Paul Klees, der Bucher stark inspirierte. Der Fisch als psychologisches wie künstlerisches Sinnbild für Traumdeutungen verweist bei Bucher auf die Aufarbeitung komplexer Beziehungsgeflechte, die sie in Träumen wie auch Fantasien beschäftigten und zudem mit Kindheitserinnerungen verknüpft waren. Bucher kommentierte eines ihrer surrealen Schlüsselwerke, „Anna Mannheimer mit Zielscheibe“ (1975; Abb. 4), das ein Kleid und eine Muschel stellvertretend für den Kopf auf einem Plumeau gebettet zeigt, wie folgt: „Es sind die Annas: ich, meine Mutter, meine Grossmutter, alle Frauen. Und sie heissen so, weil sie in Männer-heimen haben überleben müssen.“ Die sich in der abgebildeten Kleidung unter Weglassung des Kopfes artikulierende Entpersonifizierung verweist auf die Allgegenwärtigkeit unterdrückender Bedingungen, wie sie das Leben von Frauen bestimmten, und zielt auf eine Sichtbarmachung körperlich gelebter Fremdheit ab. Die Weichobjekte tragen verborgene Botschaften in sich und vermitteln verschiedene Repräsentationen von Erlebtem. Das „Bett“ (1975; Abb. 5) steht wie ein Zimmer oder ein Haus für eine bestimmte Form von Leiblichkeit, einen Ort, an dem sich das Leben von der Geburt über die Phasen der Krankheit bis hin zum Tod abbildet. Es markiert eine Zone der Sexualität und des Verborgenen, indem die private Sphäre sich von der öffentlichen abgrenzt. Bucher machte das Bett zum öffentlichen Schauobjekt, das zwischen einer Skulptur und einem Bild an der Wand changiert. Mittels ihrer visuellen Codes bewirkte sie eine Befreiung des Unterbewussten – Bucher propagierte die Überwindung von Geschlechterrollen.
Bucher stellte sich mit ihrem Wissen und ihrer Wertschätzung für die Avantgarde, ob es sich nun um Klee, Meret Oppenheim oder ihren Lehrer Johannes Itten handelte, einerseits in eine Traditionslinie, aber mit ihren avancierten intermedialen Verfahrensweisen und Themen etablierte sie sich im Kontext des gesellschaftlichen Wandels der Nachkriegszeit als eine Hauptvertreterin der internationalen Neo-Avantgarden.
Die Idee der Transformation sollte in Buchers Werk mit dem Drapieren von Latexabzügen gehäuteter Wände zu einer tragbaren perlmuttfarben schillernden Körperskulptur, „Libellenlust (Kostüm)“ (1976; Abb. 6), einen ersten Höhepunkt erreichen. Zu verschiedenen Gelegenheiten trug sie die Arbeit performativ zur Schau und umhüllte sich mit den architektonischen Hüllen, die ihre einstige Gestalt und ihre Vergangenheit dabei gleichsam abstreiften (Abb. 7). Bucher sagte: „Die Metamorphose ist im Schlüpfakt abgeschlossen, denn er symbolisiert den Durchbruch.“ Sie eignete sich einen zweiten Körper an und nutzte die Verhüllung, um soziale Prozesse zur Anschauung zu bringen.
Ähnliche Versuche der Aufhebung dualistischer Geschlechtsidentitäten unternahm Louise Bourgeois mit skulpturalen Darstellungen fragmentierter Körperteile, etwa durch Verschmelzung von männlichen und weiblichen Genitalien zu bisexuellen Symbolen. Gleichermaßen wie Bucher experimentierte sie früh mit Latex, um sensible Beziehungen innerhalb der Kernfamilie und damit verbundene Angst- und Hassgefühle zu thematisieren. Über das Unbewusste und Persönliche drangen Bourgeois wie auch Bucher zu universellen Dimensionen von Fremdbestimmung und Demütigung der Frau in dominanten familiären und gesellschaftlichen Strukturen vor. Unbeeindruckt von der Blütezeit des Modernismus und dem Machismo des Abstrakten Expressionismus in der damaligen Kunstszene New Yorks, die ihnen wohlvertraut war, widmeten sich beide Künstlerinnen der fortwährenden Entmystifizierung weiblicher Klischees mit einem offenen Werkbegriff. Mit der Konzentration auf fragmentierte und verfremdete Organe entfesselte Bourgeois den Körper in der Kunst, blieb jedoch im Gegensatz zu der eine Generation jüngeren Heidi Bucher letztlich einer binären Geschlechterordnung verbunden.
Der Lebensweg beider Künstlerinnen und ihre späte Entdeckung durch den Kunstbetrieb verdeutlichen einmal mehr die brutalen Mechanismen der Ausgrenzung von Frauen aus der Produktion kultureller Bedeutung. Heidi Buchers erste Ausstellung mit Latexarbeiten fand 1977 in der Züricher Galerie Maeght statt. Dies scheint programmatisch bedingt gewesen zu sein, wenn man auch die Einladung der Direktorin Elisabeth Kübler an Louise Bourgeois berücksichtigt, die dort 1985 mit einer Überblicksausstellung erstmals in Europa gezeigt wurde. Kübler erinnert sich, dass das „Frausein“ in der bildenden Kunst damals ein Stigma bedeutet habe und sie nur in weniger betriebsamen Zeiten wie im Sommer, Künstlerinnen ausstellen konnte. Die Galeristin betonte jüngst, dass beide Frauen sich einer kategorisierenden Zuordnung zum Feminismus zu entziehen wussten. Louise Bourgeois, die sich keinen aktivistischen Initiativen angeschlossen hatte, bemerkte einst: „Mein Feminismus äußert sich in einem intensiven Interesse an dem, was Frauen tun.“ In derselben Weise beschäftigte sich auch Bucher in den 1970er-Jahren mittels emanzipatorischer Strategien unabhängig von Männern mit einer Identitätsfindung jenseits von Geschlechterstereotypen.
Feministische Künstlerinnen in den USA und in Europa konzentrierten sich auf die weibliche Anatomie. In Los Angeles wurde von Judy Chicago und Miriam Schapiro 1972 der Projektraum Womanhouse im Kontext ihres feministischen Kunstprogramms am California Institute of the Arts begründet, der als neue geschützte Sphäre für die Kunstproduktion von Frauen diente. Heidi Bucher war dort förderndes Mitglied der Womanspace Gallery und nahm auch an einer Ausstellung teil. Zweifelsohne mündete Heidi Buchers mehrjähriger Auslandsaufenthalt, insbesondere derjenige in Los Angeles, in eine persönliche und künstlerische Emanzipation, die den Beginn des eigenständigen Hauptwerks ab 1973 markierte. Denn sie gewann eine sehr wohl durch den Feminismus geschärfte künstlerische Perspektive – wie anhand der Werkgruppe der „Weichobjekte“ ersichtlich wird. Seitdem rückte sie verdrängte Räume in den Fokus, die sich dem Blick der Öffentlichkeit entzogen, jedoch die Alltagsrealität von Frauen – eben auch derer ihrer eigenen Familie – widerspiegelten.
Im gleichen Jahr von Heidi Buchers erster gesamten Raumabnahme des väterlichen „Herrenzimmers“, 1978, übersetzte sie den von 1973 stammenden und von ihr aufbewahrten Artikel „Eva Hesse’s Sculpture: Mysterious Effects from Unexpected Materials“ der amerikanischen Kunstkritikerin Barbara Rose. Die außerordentliche Bedeutung dieser Archivalie ist nicht zu überschätzen, vermittelt sie uns doch Kenntnis von der Hochachtung, die Bucher dem Werk von Eva Hesse in der Abgrenzung zur Minimal Art entgegenbrachte. Inspiriert haben müssen sie Hesses mehrdeutiger Umgang mit dem Körper und die organischen Qualitäten ihrer Skulpturen, die nahezu nie in die Abbildhaftigkeit abgleiten. Assoziationen zu Fleisch und Haut durchziehen Hesses Arbeit mit Naturkautschuk, Fiberglas und Polyester, mittels derer sie ephemere skulpturale Gebilde gestaltete. Hierbei bediente sie sich vielfach serieller Anordnungen für ihre in der Form sich niemals gleichenden und doch ähnelnden Skulpturen. Die in ihrer räumlichen Inszenierung und Fragilität als fluid und transparent wahrnehmbaren Plastiken unterscheiden sich damit gravierend von der geometrischen Strenge der industriellen Materialien der amerikanischen Minimal Art. In „Contingent“ (1969; Abb. 8) verbildlicht sich mit der aufgerollten, in Fiberglas und Latex gleichsam mumifizierten Kleidung eine Verkörperung der Entkörperung. Wie Eingeweide werden die frei im Raum schwebenden, membranartigen Textilien in ihrer Funktion als menschliche Stellvertreter freigelegt.
Die Verwandlung der Materie erprobten Bucher wie auch Hesse mittels Naturkautschuk im Zuge ihres künstlerisch experimentellen Vorgehens. Bucher griff die Doppeldeutigkeit der Fluidität auf, doch ging es ihr um eine radikale Abkehr von anonymen, kommerziellen Oberflächen. Sie beschäftigte sich mit der Übertragung psychischer Prozesse auf das Material, versuchte Spuren der Persönlichkeit sichtbar zu machen und einen transitorischen Charakter als Werkprozess herauszuarbeiten.
Bereits während ihrer zwischen 1969 und 1972 erfolgten Zusammenarbeit mit Carl Bucher übertrug sie die von einem futuristischen Fortschrittsglauben getragenen Skizzen für statische Bildwerke in performative, zwischen Kostüm und Skulptur changierende Objekte. Ein unverkennbar vom Bauhaus inspiriertes Zusammenspiel von Mode, Design und Architektur war darin greifbar, das auf ihre einstige Ausbildung bei Johannes Itten an der Züricher Kunstgewerbeschule zurückzuführen ist. Es ist nicht verwunderlich, dass darauf ihre eigene Werkgruppe „Bodyshells“ (1972; Abb. 9, 10) – trag- und tanzbare, an organisches Meeresgetier erinnernde Körperskulpturen – folgte. Sie schuf Sinnbilder für das Wechselspiel von Verhüllung und Enthüllung, die eine Form von Wandelbarkeit im Sinne von Erneuerung zelebrierten.
In einem Schriftstück benannte sie die frühesten drei großen Häutungen von Borg (1976), dem Elternhaus (1978) und schließlich dem Ahnenhaus (1980–1982) – zentralen Orte ihrer eigenen Biografie – als erste produktive Phase nach ihrer Rückkehr aus den USA. Bereits seit ihrer ersten architektonischen Raumhäutung achtete Bucher auf eine umfassende fotografische Dokumentation des Werkprozesses, veranlasste aber auch filmische Aufzeichnungen. Neben der Vielzahl an Skizzen und Notizen zu diesen drei spezifischen Projekten verfasste sie fortan auch Aktionsabläufe. In diesen Werkinstruktionen vermerkte sie unter anderem, inwiefern Videoaufzeichnungen der Aktionen essenziell seien, und später formulierte sie sogar den Wunsch, dass diese in Kombination mit den Werken ausgestellt werden sollten. In ihrem künstlerischen Konzept war damit die nachträgliche Nachvollziehbarkeit der Aktionen durch die Betrachter*innen als ein zentrales Anliegen verankert. Das jüngst im Kontext der Retrospektive im Haus der Kunst wiederentdeckte Videomaterial zu unterschiedlichsten Häutungsaktionen der 1970er- und 1980er-Jahre zeigt Bucher in Ausführung performativer Gesten und Bewegungen, die mit den Werken und deren Umraum zu verschmelzen scheinen. Ihr Körper vermittelt in den Szenen einen Eindruck von Bildhaftigkeit, was den Posen geschuldet ist, wobei sie vielfach den imaginierten Betrachter intensiv in den Blick nimmt. Ein direktes Verhältnis zum Betrachter war somit einkalkuliert, wodurch sich ihre persönliche Präsenz als elementar erweist.
Während ihres ersten New-York-Aufenthalts zwischen 1956 und 1958 schloss Bucher Freundschaft mit dem Fotografen Hans Namuth, dessen Aufnahmen von Jackson Pollocks Malprozessen 1967 im New Yorker MoMA präsentiert wurden. Es ist davon auszugehen, dass Bucher mit dieser neuartigen, ungewöhnlich dynamischen Wiedergabe von Werkprozessen damals, Mitte der 1950er-Jahre, schon in Berührung kam. Interessanterweise wurde wenig später in der Kunstszene New Yorks durch vom Avantgardetanz beeinflusste Schlüsselfiguren wie Robert Morris oder Bruce Nauman die Skulptur zum Leben erweckt. Bucher wie auch Nauman erkundeten die innere und äußere Wahrnehmung, wobei Widersprüchlichkeiten der von unseren Sinnen gelieferten Informationen reflektiert wurden. Wie Nauman war auch Bucher daran gelegen, private Körpererfahrungen im öffentlichen Raum zu teilen.
Der Konflikt zwischen Privatem und Öffentlichem sollte sich am dritten Ort ihrer künstlerischen Erkundungen mit den sich über zwei Jahre erstreckenden Häutungen im Ahnenhaus (1980–1982; Abb. 11, 13) als ein wegweisendes Leitthema ihres Werkes herauskristallisieren. Im Ahnenhaus, der Obermühle in Winterthur, lebten ihre Großeltern einst gemeinsam mit Familienmitgliedern aus mehreren Generationen. In der Nutzung der Räume des jahrhundertealten, historischen Objekts offenbaren sich zugleich die Beziehungen der Mitglieder der häuslichen Gemeinschaft untereinander. Kants Moralphilosophie („Metaphysik der Sitten“, 1797) und das von ihm herausgestellte Ehe-, Eltern-, und Hausherrenrecht spiegelten sich in den damaligen realen Verhältnissen in Gestalt einer totalen Aufhebung von Freiheitsrechten wider, indem Menschen wie Besitzgegenstände einander zu dienen hatten – insbesondere aufgrund ihrer Geschlechtseigenschaften.
Die Auswirkungen dieser repressiven und statischen Rollenverteilung lassen sich in Buchers Familie anhand einer Vielzahl persönlicher Schicksale über Generationen hinweg ebenso zurückverfolgen wie die Einflussnahme von gesellschaftlichen Wertesystemen durch deren Übertragung ins Private.
In ihren Notizen zu diesem Häutungsprojekt fertigte Bucher Skizzen zu allen Etagen und den Böden wie auch deren Musterungen, und sie vermerkte die Anzahl der gehäuteten Böden, Wände und Fenster. Spuren der historischen Oberflächen von Holz- und Steinböden blieben im Latex haften; Bucher bezeichnete die Aktion deshalb als „Manifest der Vergangenheit“, wobei das Berühren des Hauses – ein Herüberholen und Abstreifen des Vorhandenen in unserer Zeit – ihre Vision sei. Die an überdimensionierte Membranen erinnernden Bodenhäute aus dem Ahnenhaus symbolisierten zugleich aktuelle Körperpolitiken, indem der jeweilige Raum sich mit seiner sozialen Definition und Geschichte ins Material einschrieb. Bucher zielte darauf, einer Entfremdung des Körpers entgegenzuwirken und kulturelle Codierungen sichtbar werden zu lassen.
In Buchers Archiv ist eine vergessene Skizze aufgetaucht, die ein Konzept für eine mehrgeschossige Hängung der Ahnenhaus-Bodenhäute am Boden, an den Wänden und freischwebend im Raum beinhaltet (Abb. 12) – eine Überführung der Skulptur in ihrer Singularität in eine komplexe vielteilige und abstrahierte Installation.
Den Auftakt zu einer thematisch neuen Projektreihe in den 1980er-Jahren sollte die Häutungsaktion im ehemaligen Gefängnis in Le Landeron bilden, die aus Buchers Teilnahme an der dort 1983 ausgerichteten 1ère Triennale Le Landeron „La femme et l’art“ hervorging.
Anhand ihrer Werkinstruktion lässt sich der Ablauf der mehrtägigen Häutung des Gefängnisses unter Beteiligung von letztlich fünf Performerinnen nachvollziehen, die sie zuvor schriftlich eingeladen und gebeten hatte, Herrenunterwäsche wie auch Leibchen mit langen Ärmeln für die abschließende eigene Häutung ihrer Körper zu tragen. Es existieren wiedergefundene Videoaufnahmen von zwei durch Bucher selbst beauftragte Kamerafrauen, die am 4. Juni 1983 diese Häutungsprozesse filmten. Die Performerinnen rieben sich gegenseitig mit Kautschukmilch ein, streiften nach der ersten Trocknung und dem Einreiben der Anzüge mit Perlmuttpigmenten die Häute ab – die „Schlüpfakte“ waren vollzogen. Am darauffolgenden Tag trugen die in jene Körperanzüge gehüllten Frauen die zuvor dem Gefängnis abgenommenen Raumhäute durch den Ort zum Rathaus, in dem sie schließlich, lediglich beobachtet von den Kameras, ihre „Schlüpfakte“ symbolisch erneut vollführten mittels Ausziehen und nackt den Raum verließen. Bucher definierte dies schriftlich als Performance, der sie den Titel „Ablarven“ gab (Abb. 14). Die Beziehung zwischen der Aktion und deren filmischer Aufzeichnung basierte auf dem Moment der Gemeinschaftsbildung und der mit den Betrachter*innen geteilten körperlichen Erfahrung. Die Anwesenheit des Künstlerkörpers war unerlässlich für Bucher, wobei die Zuschauer*innen mit ihrer eigenen Wahrnehmung sich auch zu einem späteren Zeitpunkt ins Verhältnis zur Aktion setzen konnten. Sie ermöglichte damit eine kalkulierte, zeitlich nicht begrenzte Rezeption ihrer Arbeiten in der Zukunft.
Bucher kommentierte ihr partizipatives Werk wie folgt: „Das Ausschlüpfen der Parkettlibelle im Gefängnis Le Landeron ist durch den Prozess garantiert, Hartes, Festes, Grauenhaftes, Grausames abzulösen. Die Frauen haben sich aus den Larvenhüllen herausbewegt und sie abgelegt.“ Sie hatte sich dem Gefängnis als erste von mehreren Sozialeinrichtungen gewidmet, an denen Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden. Sie mobilisierte die Geschichte dieser Orte unter Einbeziehung von Frauen, die bis dahin als unsichtbare Subjekte hatten agieren müssen. Bucher zielte demonstrativ auf eine aktive Mitgestaltung der Verhältnisse, was sie öffentlich mittels einer Prozession zur Schau stellte.
Nur wenige Jahre später, 1987, suchte Bucher das verlassene Grand Hôtel Brissago am Lago Maggiore auf, um dort die Häutung des Eingangsportals vorzunehmen (Abb. 15). Das 1904 errichtete herrschaftliche Hotel diente europäischen Intellektuellen als Ort der Erholung und wurde zu Zeiten des erstarkenden Faschismus zu einer Zufluchtsstätte für Schriftsteller wie Thomas Mann oder Kurt Tucholsky. Mit der Machtergreifung durch die Nazis wurde der einstige Schutzort zu einem staatlich organisierten „Interniertenheim“ für jüdische Kinder und Frauen. Erneut konfrontierte sich Bucher mit einem Gebäude, in dem eine brutale Herrschaftsausübung über Menschen stattgefunden hatte und die erlebten Traumata körperliche wie seelische Verletzungen verursacht hatten. Bucher stieß mit ihrer Häutung „Grande Albergo Brissago“ Erinnerungsprozesse an und trat so der gesellschaftlichen Verdrängung und dem Vergessen entgegen. Sie wendete sich einem von kollektiver Schuld und Scham besetzten Ort zu. Hannah Arendts 1943 kurz nach der Ankunft in den USA verfasster Essay „We Refugees“ („Wir Flüchtlinge“) wurde erst Mitte der 1980er-Jahre ins Deutsche übersetzt, ungefähr zur selben Zeit, als Bucher die Häutung in Brissago ausführte. Arendt formulierte darin zum Schweigen über den Holocaust: „Wie oft hat man uns außerdem zu verstehen gegeben, daß das niemand hören möchte; die Hölle keine religiöse Vorstellung mehr und kein Phantasiegebilde ist, sondern so wirklich wie Häuser, Steine und Bäume. Offensichtlich will niemand wissen, daß die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat – Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden.“ Mit ihrer künstlerischen Geste leistete Bucher einen Beitrag zur Überwindung des Nachkriegs-Schweigens mittels Erinnern durch Handeln. Sie bediente sich weiterhin der Latexhäute als Stellvertretern für gesellschaftliche Körperpolitiken, die seelische Prozesse von Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen repräsentieren.
Noch im selben Jahr 1988 suchte Heidi Bucher eine verlassene, einstmals über mehrere Generationen von der Familie Binswanger geführte psychiatrische Privatklinik auf, das in Bad Kreuzlingen am Bodensee ansässige Sanatorium Bellevue. Damit erlangte Buchers Beschäftigung mit Körpersystemen und deren Erkundung im Zusammenhang psychologischer, sozialer und kultureller Formung einen Höhepunkt. Die Aufklärung über die einst dort unternommenen medizinischen Versuche, Kontrolle über Geist und Körper anderer zu erlangen, die von gesellschaftlichen Normen und Idealen abwichen, stand dabei im Mittelpunkt ihres Interesses. Bucher wickelte sich förmlich in die abgezogenen Latexhäute ein, wie in etlichen filmischen Sequenzen eindrucksvoll zu sehen ist.
Dem Latex-Raumabzug des „Audienzzimmers des Dr. Binswanger“ (1988; Abb. 16-18) eignet eine einschüchternde Aura, bedenkt man die Verwissenschaftlichung und Pathologisierung, wie sie dort der vermeintlichen Hysterie-Patientin, der späteren Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, zuteilwurde. Binswanger behandelte sie in engem Austausch mit seinem Kollegen Sigmund Freud, in dessen Studie zur Hysterie Anna O. als erste Probandin auftaucht. Freuds Denken über Frauen war von der Überzeugung getragen, dass die Verknüpfung von Biologie und Sozialem, von Natur und Geschichte persönlichkeitsprägend sei. „Anatomie ist Schicksal“, so Freud, was sich auch auf das aufgrund von Geschlechtszugehörigkeit zugeschriebene Krankheitsbild erstreckt. Derartige Vorstellungen von naturgegebenen Verhältnissen dienten das gesamte 20. Jahrhundert hindurch als Legitimation für soziale Wirklichkeiten und tun dies immer noch, wogegen Bucher sich positionierte, indem sie den Körper als Projektionsfläche gesellschaftlicher Interessen entlarvte, als Träger von Fremdbestimmungen.
Im Feminismus wurden soziale Konstruktionen von Geschlechtlichkeit immer wieder problematisiert, ob nun Simone de Beauvoir die Ungleichbehandlung im Patriarchat offenlegte oder Judith Butler die Debatte um polymorphe sexuelle Identitäten erweiterte. Letztlich bot Bucher mit ihren Latexhäutungen schon sehr früh einen künstlerischen Entwurf zur Aufhebung der Kategorie des Geschlechts. Entgegen tradierten Körperkonzepten, wie dem der Psychoanalyse, plädierte sie in ihrer Kunst für die Aufhebung von den genitalen Zonen auferlegten Zuschreibungen. Hingegen gestattet die Fokussierung auf die Oberfläche der Haut Deutungen von Körperzonen, die nicht auf die Geschlechtlichkeit verengt sind – ganz in dem Sinne, wie Bucher psychische Prozesse als Auslöser von Körperempfindungen verstand. Mit ihren radikalen Vorstellungen von Körper- und Raumtransformationen eröffnete sich im Werk Buchers ein schier unbegrenzter Kosmos an möglichen neuen Gesellschaftsentwürfen.
Sie hauchte den Werken erneut ein erzählerisches Moment ein und befreite den Körper aus der Unterordnung unter das Faktische. Ihre Verschränkung von Medien mündete in ein Spiel mit der An- und Abwesenheit – der Körper als Medium und Mittelpunkt der Verwandlung von Natur zu Material und Skulptur. Buchers Oeuvre legt Zeugnis ab von der künstlerischen Entdeckung und Emanzipation des sensuellen, empfindsamen Körpers im 20. Jahrhundert, wobei sie mit einem prozessualen Werk- und radikalen Materialverständnis geschlechterlosen Utopien den Boden bereitete und sich entschieden gegen Ablehnung, Unterdrückung und Diskriminierung positionierte.