Standing on the Corner wurde 2014 vom puerto-ricanischen Künstler Gio Escobar gegründet. Das Ensemble aus bis zu 30 Musiker*innen – allesamt Teil der afrikanischen und karibischen Diaspora – tritt in unterschiedlichen Formationen in Erscheinung. Mit ihrer Musik reflektieren die Mitglieder dieser Gruppe auf intuitive Weise ihre Erfahrungen und bewegen sich dabei frei zwischen Jazzimprovisationen, Dub, Garage Noise und Lo-Fi-Hip-Hop-Collagen.
Am 24. & 25.2.23 tritt Standing on the Corner im Rahmen von TUNE im Haus der Kunst auf. Zu diesem Anlass sprach Kuratorin Sarah Miles mit Gründer Gio Escobar über kreative Visionen, Inspiration und seine Erfahrungen in Europa.
Sarah Miles: Sind Sie schon einmal in Deutschland oder in Europa aufgetreten und wie war Ihr Eindruck?
Gio Escobar: Als Ensemble sind wir noch nie in Deutschland aufgetreten, aber in Europa: in Paris und London. Unsere Erfahrungen als Musiker*innen beschränken sich auf das Kunstumfeld – also auf Veranstaltungsreihen, die von Kunstinstitutionen organisiert wurden, und die in deren Räumlichkeiten stattfanden. Ich nenne diese vergangenen Events absichtlich nicht „Konzerte“; sie fühlen sich für mich völlig anders an, vielleicht eher wie Versuche darin, Fremde zu sein. Eine Sache, die mir im Rahmen unserer Auftritte auffiel, war die Art und Weise, wie sich die Menschen im Publikum in Europa zu uns positionierten. Als wir wieder zu Hause waren, habe ich oft versucht, dieses typische Verhältnis zwischen Publikum und Performer*in, das sich wie die Plage von einem Parasit anfühlt, zu zerstören. Es ist sehr ähnlich zu einem Zirkus, sehr ausbeuterisch und amerikanisch, im Sinne von „the monkeys must dance so the rich can eat“ [dt.: die Affen müssen tanzen, damit die Reichen essen können]. Es ist ein integraler Bestandteil unserer Arbeit als Ensemble, dass wir Fragen stellen bezüglich dieses Verhältnisses, sowie dahingehend, wer in dieser Beziehung wessen Publikum ist. Das bedeutet: Wer beobachtet hier eigentlich wen? In Europa fühlte ich mich – zweifellos aufgrund des Umfelds – wie ein „Kunstobjekt“ behandelt bzw. gebraucht. Das war seltsam, aber auch aufschlussreich, und zwar insofern, als es nicht was gänzlich anderes ist. Ist ein Objekt an der Wand, das von hochrangigen Sammler*innen, Kurator*innen und Kriminellen als wertvoll erachtet wird, etwas völlig anderes als ein Spaßvogel, der den Narr für die Massen spielt? Ich weiß darauf keine Antwort, dafür habe ich noch mehr Fragen, wofür ich sehr dankbar bin. Ich werde ihnen weiterhin nachgehen, während wir in der Welt umherreisen.
In Bezug auf Deutschland habe ich meine einzige Erfahrung als „Künstler“ nicht im Rahmen eines Auftritts gemacht, sondern als ich als Arrangeur bei einem größeren Orchesterkonzert tätig war, das in der Elbphilharmonie in Hamburg gegeben wurde. Obwohl es eine brillante Show war, die in mancher Hinsicht sehr wichtig für meine Entwicklung war, muss ich immer daran denken, wie viel Rassismus wir erlebt haben. Das wurde deutlich anhand der Art und Weise, in der uns die Leute behandelten, bevor sie wussten, dass wir einen Auftritt haben oder Künstler*innen sind, im Vergleich zu der Art, wie sie danach mit uns umgingen. Das ist ein Problem. Dasselbe gilt für Paris oder London. In bestimmten Szenen sagt man oft, dass Europa toleranter sei, aber ich möchte betonen, dass es da ein Problem gibt.
SM: Wie kamen Sie auf den Namen Standing on the Corner?
GE: Standing on the Corner ist vom Konzept der Straßenkreuzung abgeleitet – auf einer abstrakten Ebene ist das ein wichtiger Ort der Entscheidung oder der Unschlüssigkeit, und in Bezug auf den urbanen Raum ist es der zentrale Ort, an dem sich das Leben abspielt. Es ist ein Ort der Sicherheit, der oft von Kirchen oder Bodegas eingenommen wird, oder vielleicht ein Tor zur Unterwelt. Maferefun Eleggua. Straßenecken bieten Möglichkeiten, sich zu vereinen, und sind naturgemäß interdisziplinär. Ich gebe jedoch zu, dass sich mir diese Ideen erst mit der Zeit eröffneten. Die Inspiration für diesen Namen kam ursprünglich von Children of the Corn. Das ist eine Crew aus Harlem, die in den Neunzigern Rapmusik gemacht hat. Diese Musik hat mich beeinflusst und nachdem ich diesen Namen gewählt hatte, habe ich plötzlich überall entsprechende Zeichen erkannt.
SM: Ihre Musik und Kunst ist sehr vielschichtig. Wie hat sich die Gruppe formiert und was ist die gemeinsame gestalterische Vision?
GE: Die erste Phase des Kollektivs bestand mit der Organisation eines Sets, das sich am besten als Zusammenstellung von Liedern und Darbietungen beschreiben lässt, die ich über mehrere Jahre komponiert habe. Daraus wurde unsere erste Platte, die ursprünglich die Vision eines Einzelnen war, an der dann aber viele mitgewirkt haben. Ich muss ganz offen zugeben, dass eine solche kollektive Aktion einerseits etwas Erstrebenswertes ist und all die Mühe wert ist, andererseits keine einfache Sache ist. Unsere Gruppe funktioniert heute ganz anders als noch vor einigen Jahren. Das ökonomische Konstrukt Kunst/Musik harmoniert grundsätzlich nicht mit der Arbeit im Kollektiv und diese Disharmonie bremst einen dahingehend aus, dass man letztendlich zu konventionelleren Organisationsformen tendiert. Das kommt meines Erachtens dadurch zum Ausdruck, dass die Frage nach der kreativen Vision und danach, wie diese „geteilt“ wird, derartig aufgeladen ist.
SM: Wer und was sind ihre wichtigsten musikalischen Inspirationsquellen?
GE: Am meisten inspirieren mich musikalisch die verschiedenen spirituellen Traditionen, mit denen ich in Kontakt gekommen bin – sei es als Gläubiger oder als Beobachter. Es handelt sich dabei um Musik der Schwarzen Diaspora, die mit Blick auf ihren Zweck oder ihre Funktion faktisch mehr ist als Musik; zum Beispiel die Hymnen aus den Gesangsbüchern in den Baptistenkirchen, wo ich musizierend aufwuchs, oder die Klagelieder, die puerto-ricanische Brassbands bei Beerdigungen spielen, und die sehr ähnlich klingen wie die in New Orleans. Ich fühle mich aber ebenso von den Straßenpoet*innen inspiriert, von Gruppen wie The Last Poets und Typen wie Pedro Pietri, die mich bewegen und die mich dazu gebracht haben, mich mit Worten eingehend zu beschäftigen und darüber nachzudenken, was es generell bedeutet, überhaupt zu sprechen.
SM: Wie beeinflussen New York City und Puerto Rico Ihre Musik?
GE: Ich repräsentiere diese beiden Orte in dieser spezifischen, komplizierten historischen Phase. Es ist mir bewusst, dass ich zu einem Repräsentanten einer komplexen Verbindung zwischen dem Kolonialherrn und der Kolonie werde und meine größte Hoffnung ist, dass ich ganz einfach ein ehrlicher Bote dessen bin, was ich im Moment für die Zukunft vorhersehe.
SM: Das Video vereint verschiedene Arten von Musik sowie Fotografien, Zitate, Illustrationen und Filmmaterial, was dieser Arbeit einen Rundfunk-/Radio-Touch verleiht. Auf Ihrer Website zeigen Sie auf ähnliche Weise verschiedene Grafiken und Zeichnungen, Memes und GIFs. Was steuern diese diversen Formen Ihrer Meinung nach zu Ihrer Arbeit bei?
GE: Diese verschiedenen Formen zu kombinieren ist für mich eine moderne Art der Visualisierung von Daten, bloß dass keine Zahlen analysiert werden, sondern „zufällige“ Verbindungen und Narrative, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Versteckte Relikte der Unterdrückung und des Rassismus sind omnipräsent in unserer Bildsprache und zugleich gibt es eigenständige, verborgene Einflüsse, die diesen entgegenwirken. Wir verweisen auf diese beiden Kräfte, diese Unterdrückung und deren Bekämpfung, in unserer Arbeit anhand der Formen und Bilder, die wir zusammenbringen. Indem wir sie auf unterschiedliche Weise kombinieren, scheinen sie wichtige Botschaften hervorzubringen.
SM: Wie bringen Sie Musik und Heilung zusammen?
GE: Als Puerto-Ricaner und als Mensch, dessen Kultur afrikanische Wurzeln hat, steht es meiner Meinung nach außer Frage, dass eine Verbindung zwischen Musik und Heilung besteht; sie beinhalten sich gegenseitig. Insbesondere in Bezug auf das Trommeln: Das ist eine uralte Heiltechnik, wie man auch den Honig bei den Ägypter*innen und die Akupunktur bei den Chines*innen als eine solche ansehen kann. Heute ist Musik vielleicht das einzige verbleibende Mittel, um Frieden zu schaffen.
SM: Ihre Leidenschaft für die Gemeinschaft zeigt sich in den Events, die Sie organisieren, in Ihrer neuen Klinik, in regionalen Radioübertragungen und in der Art und Weise, wie sie kollektiv und kollaborativ arbeiten. Sind diese Beziehungen essentiell für Ihre Arbeit?
GE: Das ist die Arbeit!
SM: Können Sie uns etwas über das in diesem Jahr geplante Projekt am MOMA in New York erzählen?
GM: Ich kann Ihnen sagen, dass es den Titel Seven Prepared Pianos for the Seven African Powers trägt und dass es die Vorstellung nähren soll, dass uns spirituelle Kräfte durch verschiedene Formen der Unterhaltung verzaubern und von uns „Besitz ergreifen“. Zudem soll es Überlegungen zu der Frage anstoßen, wie sakrale Objekte betrachtet werden sollen. Es wird damit vorgeschlagen, westliche Musiktraditionen zu zerschlagen. Es handelt sich um eine Installation, bestehend aus Sound, bewegten Bildern und Performance.
SM: Und zuletzt: Was ist die wichtigste Inspiration für Ihren Auftritt am Haus der Kunst?
GE: Entfremdung … Krieg und … Überraschung!