Das Gespräch zwischen der Künstlerin Joan Jonas, dem Kuratoren und Künstlerischen Geschäftsführer Andrea Lissoni und der Kuratorin Julienne Lorz fand am 13. Oktober 2017 in der Tate Modern in London statt. Der Blogbeitrag enthält eine gekürzte Version. Das vollständige Interview ist im Ausstellungskatalog zu finden.
Julienne Lorz: Lass uns mit Stream or River, Flight or Pattern [2016/17] beginnen. Es besteht im Wesentlichen aus drei Videoprojektionen, von denen jede eine eigenständige Arbeit ist: Alle Videos wurden an unterschiedlichen Orten und zu anderen Zeiten gefilmt und du hast sie dann für diese Arbeit zusammengeführt. Die Arbeit scheint wie eine Art Einschnitt in deiner Praxis, insbesondere in der Art und Weise, wie du mit Objekten umgehst. Du hast die Anzahl der Objekte im Raum stark reduziert, die von der Decke hängenden Drachen sind die einzigen Objekte in der Installation. Im Vergleich zu Arbeiten wie Organic Honey [1972/1994], The Juniper Tree [1976/1994], oder…
Andrea Lissoni: …oder They Come to Us without a Word [2015], das eine beachtliche Anzahl von Requisiten und Projektionsflächen enthält...
Joan Jonas: In Stream or River, Flight or Pattern gab es auch vierzehn 1,5 Meter hohe Holztafeln mit Vogelzeichnungen, die im Raum verteilt waren und den Fokus der Installation auf das Vogel-Thema richteten. Als ich in den späten 1960er Jahren anfing, verwendete ich Alltagsgegenstände, die ich auf bestimmte Weise sammelte. Und so wie ich die Arbeit mit Videobildern weiterentwickelte – projiziert oder auf Monitoren –, fand ich auch im Umgang mit Objekten ständig neue Wege. Während ich weiterhin Objekte sammelte, stellte ich auch Objekte her. In Stream or River, Flight or Pattern sieht man in einem Video, das von Vietnam inspiriert wurde, dass viele meiner Objekte, die ich im Laufe der Jahre gesammelt hatte, auf unterschiedliche Weise aufgestapelt und teilweise von Performer*innen getragen werden. Die drei Videos wurden an verschiedenen Orten während meiner Reisen gedreht. Zwei der Videos, die Vogel-Arbeit und die Vietnam-Arbeit, wurden in meinem Studio fertiggestellt, wofür wir das gesammelte Filmmaterial aus verschiedenen Quellen projizierten und mit Performance kombinierten – von mir selbst und einigen der Performer*innen, mit denen ich zuvor für die Venedig-Arbeit (They Come to Us without a Word) zusammengearbeitet hatte. Wir wählten geeignete Objekte aus und integrierten sie.
JL: Ja, richtig.
JJ: Vor etwa einem Jahr wurde ich von Filipa Ramos eingeladen, ein Gedicht für ihr Buch über Tiere zu schreiben. Also erstellte ich eine Liste der Objekte von mir, die Tiere repräsentieren, und dachte darüber nach, auf welche Art und Weise wir Tiere in unserem Leben haben. Diese aber sind nicht real, sie sind Repräsentationen. Ich habe also einige von ihnen in den Text mit aufgenommen. Das Gedicht ist als Voiceover in dem Vietnam-Video zu hören, in dem wir die erwähnten Tierobjekte anordnen und am Körper tragen. Es liest sich wie eine Slideshow.
JL: Und du hattest nicht das Bedürfnis, die tatsächlichen Objekte aus den Videos in dem Raum mit den Projektionen zu zeigen?
JJ: Diese Installation wurde für diesen sehr großen und schönen Raum in Gavin Brown’s Enterprise konzipiert. Die Objekte wären darin verloren gegangen. Aber sie waren zusammen mit vielen Requisiten und Masken aus meiner Sammlung in der unteren Galerie zu sehen, so dass das Publikum sich erinnern oder einen Bezug herstellen konnte, wenn es die Installation im oberen Stockwerk sah. In den neueren groß angelegten Installationen gibt es zwar Objekte, aber das sind nicht die kleineren Objekte, die ich in den Performances verwende, weil ich weiß, dass ich sie möglicherweise noch öfter verwenden werde. So gibt es zum Beispiel ein Set von Objekten für Reanimation [2010/2012/2013] und They Come to Us without a Word. Und auch für Lines in the Sand [2002] bewahre ich diese kleineren Objekte irgendwo in einer Kiste auf.
JL: Hat das in gewisser Weise einen pragmatischen Grund?
JJ: Auf eine Art, ja. Ich würde sie gerne mit einbeziehen, aber eines Tages werde mich von ihnen trennen, wenn auch noch nicht sofort.
JL: Die Drachen werden in gewisser Weise zu einem architektonischen Element, während die Objekte bei einigen deiner anderen Arbeiten oder Installationen Teil des gesamten Werks sind, des „Gesamtkunstwerks“, aber nicht so sehr als strukturelle Elemente fungieren.
JJ: Nun, die Drachen an sich haben schöne Formen, die Teil des Gesamtbilds werden. Wenn ich die Drachen auswähle, denke ich also nicht: „Oh, jetzt werde ich ein architektonisches Element schaffen.“ Aber wie und wo ich sie aufhänge, darüber denke ich nach.
JL: Ja, sicher.
JJ: Das ist etwas anderes. Aber da es sich um eine Gruppe von großen Objekten handelt, sind sie Teil des Settings, des Bühnenbilds. Sie helfen dabei, das Bühnenbild zu definieren. Die Drachen, die ich sammle, sind sehr schön. Eigentlich zähle ich die Drachen, die der Künstler in Japan mit seinen Entwürfen bemalt hat, nicht zu meiner Arbeit. Sie hängen einfach an meinen Wänden. Die Drachen, die ich in Vietnam gekauft habe sind hoch über den Köpfen der Zuschauer*innen angebracht und definieren dadurch den Raum. Wir haben die Farbe geändert und sie gelb angemalt. In zwei der drei Videos dieser Arbeit geht es um Vögel und ihre Laute. Nach meinem Empfinden verweisen die Drachen gewissermaßen auf Vögel. Aber bei meiner letzten Ausstellung in Reykjavik werden sie als Drachen ausgestellt, die weit über dem Publikum von der Decke hängen, im selben Raum sind auch Zeichnungen an den Wänden. Hier sind die Drachen nicht an eine Installation gebunden. Ich würde sie nicht unbedingt noch einmal auf diese Weise zeigen.
AL: Du hast gerade den Begriff „Bühnenbild“ verwendet, als du die Arbeit beschrieben hast. Kannst du diese etwas ungewöhnliche Definition erklären: Es ist weder eine Installation noch ein Environment. Es ist ein Bühnenbild. Warum oder wann definierst du deine Arbeit als solches?
JJ: Nun, als ich anfing, darüber nachzudenken, meine Performances in Installationen zu übersetzen, musste ich eine Struktur dafür finden. Worin liegt der Grund für mich, dass ich Performances in Installationen übersetze? Und wie denke ich darüber was eine Installation ist? Es ist eine Anordnung von Dingen. Aber was ist der Grund dafür, es zu tun? Ich komme aus einem Performance- und Filmkontext und aus einem Studium der Kunstgeschichte, in dem die Dinge immer auf eine bestimmte Art und Weise eingerahmt sind, eingerahmt oder eingebunden. Ich wollte auch eine Verbindung zu meiner Bildhauerei herstellen, zu meiner bildhauerischen Praxis, noch bevor ich anfing, Performances zu machen. Ich betrachtete die Situationen, die ich für die Performances schuf, als etwas, das in Verbindung mit meiner Bildhauerei stand. In gewisser Weise war es eine Skulptur in einem erweiterten Feld. Als ich diese Ausstellung [„Stage Sets“, ICA, Philadelphia, 1976] hatte, habe ich sie so gesehen. Ich beobachtete also meine eigene Arbeit und die Situation für jede Performance, die eine Art Bühnenbild war, in das ich eintrat und das die Beziehung meines Körpers zum Raum und zum Publikum veränderte. Und dann habe ich das ganz direkt in die Installation eingebaut. Organic Honey war eine frontale Performance, ebenso wie Lines in the Sand und Mirage [1976]. Aber als Installation wurde es zu einer dreidimensionalen, umfassenden Anordnung. Ich habe die verschiedenen Versionen von Organic Honey – einschließlich aller Videos, die im Zusammenhang mit dieser Arbeit entstanden sind – zusammen mit den Möbeln und Objekten sowie den verschiedenen Set-ups mit Kamera und Monitoren in einem Raum kombiniert. Die Klänge der Videos sind auf ähnliche Weise perkussiv, mit einigen wenigen Ausbrüchen von Reggae-Musik. Und so funktioniert auch die Klangkulisse. Es kommt auch vor, dass eine Arbeit als Installation beginnt und dann zu einer Performance wird.
AL: Absolut.
JJ: Ich verwende Objekte immer noch auf ähnliche Weise wie am Anfang bei Organic Honey.
AL: Nun, das ist einer der Gründe, warum wir darauf bestanden haben, Stage Sets in deiner Ausstellung in der Tate Modern, im Haus der Kunst und in Serralves zu zeigen. Es gibt viele Wendepunkte in deiner Karriere, aber in deiner Ausstellungsgeschichte gibt es mindestens zwei Momente, die hervorstechen: einer ist definitiv 1994, als du im Stedelijk Museum in Amsterdam deine performativen Arbeiten in tatsächliche Installationen umgewandelt hast. Der andere fand 1976 im ICA in Philadelphia statt, als du deine erste Überblicksausstellung hattest, die nicht zufällig auch den Titel „Stage Sets“ trug. Dort hast du die Arbeit Stage Sets zum ersten Mal gezeigt, aber auch The Juniper Tree wurde für diese Ausstellung in Auftrag gegeben. Die Ausstellung hatte den Anspruch, dein gesamtes Schaffen zu präsentieren, indem „Environments“, Performances, Filme und Videos nebeneinander gezeigt wurden.
JJ: Es gab einen doppelten Ansatzpunkt. Suzanne Delehanty, die Kuratorin, bat mich, eine Performance für Kinder vorzubereiten. Ich dachte: Was soll ich für Kinder machen? Mir kam die Idee, über ein Märchen als eine Performance für Kinder nachzudenken. Außerdem hatte ich bis dahin Tapes und Videoperformances in schwarz-weiß entwickelt – Mirage war die letzte dieser Serie – und ich wollte anfangen, auf neue Weise mit Farbe und Narration zu arbeiten, ohne Video. Ich hatte das Gefühl, dass ich zunehmend von der Videotechnologie abhängig wurde. Wie arbeitet man ohne Video? Ich hatte bereits vor der Ausstellung Stage Sets ein skulpturales Bühnenbild für Mirage angefertigt, das wir dann für die erste Version der Performance The Juniper Tree in Philadelphia verwendeten.
AL: Ja.
JJ: Die Struktur für Stage Sets hatte ich noch nicht entwickelt. Aber das tat ich dann für die Ausstellung in Philadelphia, um diese ein wenig zu verändern und Elemente aus früheren Arbeiten einzubeziehen, wie Reifen, Stangen und Papierwände aus Funnel [1974], Zinnkegel aus Mirage und Stühle aus Organic Honey. Die Arbeit basiert im Wesentlichen auf vorangegangenen Arbeiten. Später habe ich für The Juniper Tree ein neues Bühnenbild gebaut, eine Darstellung des sogenannten Hauses in der Geschichte, das aus Seilen und Holz besteht und während der Performance zusammengeklappt und hochgezogen werden kann und seine Form verändert. Das habe ich nach der Show in Philadelphia gemacht, weil ich verschiedene Versionen von The Juniper Tree entwickelte. Es war die erste Version, in der andere Menschen performten. Es gab eine zweite gemeinsame Version für The Kitchen in New York, aber dann wollte ich ein Solostück machen, weil ich das Gefühl hatte, die Verbindung zu mir selbst in Bezug auf den Ausgangspunkt, die Geschichte, zu verlieren. Es wurde in meinem Loft gebaut und präsentiert, und da habe ich auch angefangen zu malen und die Bilder für die Kulisse anzufertigen. Ich hatte in meiner Arbeit zwar immer schon gezeichnet, aber nicht gemalt.
AL: Eigentlich war das die erste Installation, aber sie wurde noch nicht „Installation“ genannt. Der Begriff war damals in der Kunst noch nicht gebräuchlich, deshalb nannte man es „Stage Sets“. Und der Titel spiegelt genau, fast ontologisch, wider, was das Werk ist.
JL: Es ist wirklich eine sehr minimalistische Installation. Als Betrachter*in war man dazu aufgefordert, durch sie hindurchzugehen und den Raum zu erfahren, der durch deine Eingriffe ein anderer geworden war.
AL: Es ist faszinierend, dass hier kein Text am Anfang steht. Im Allgemeinen würde man von einem Text ausgehen. Nicht unbedingt von einem Original, eher von neu zusammengefügten Texten, von Ergebnissen eines Cut-up-Prozesses, von Texten, die in einer Performance gelesen werden…
JJ: Nun, ich habe bis zu The Juniper Tree, als ich anfing, mit Märchen zu arbeiten, Text nie so verwendet. Allerdings habe ich den Text von [Jorge Luis] Borges für die Solo-Version des Mirror Piece [1969] verwendet. Ich wurde von ihm inspiriert und habe ihn gelesen und auswendig gelernt, aber er war bis zu dem Zeitpunkt, als ich das Mirror Piece im Guggenheim [2010] neu überarbeitet habe, nicht Teil der gesamten Mirror Pieces.
AL: Ist das Tier-Gedicht in Stream or River, Flight or Pattern der erste Text in einer deiner Installationen, der von dir stammt?
JJ: Fragmente meiner Texte sind in Volcano Saga [1985-89] enthalten, und I Want to Live in the Country [1976] besteht, obwohl es ein Video ist, durch und durch aus meinen Texten in Tagebuchform. Mein neuestes Video, das von Vietnam inspiriert ist, enthält eine Liste von Tieren, die ich in poetischer Form zusammengestellt habe. Schon seit langem greife ich immer wieder auf das von Ezra Pound und Ernest Fenollosa übersetzte Buch über das Noh-Drama [The Classic Noh Theatre of Japan, 1959] zurück. Für diese letztere Arbeit habe ich Zeilen aus den Noh-Stücken des Buches entnommen und sie angeordnet. Das Buch ist eine Inspirationsquelle für mich, seit ich 1970 in Japan war, aber ich habe bis vor kurzem nie mit diesem Text gearbeitet. Die Zeilen aus dem Noh waren eine Art Inspiration für Stream or River, Flight or Pattern. Für das Schattenvideo, das in Santander mit Teilnehmenden des dortigen Workshops gedreht wurde, hat eine von ihnen, Allison Hamilton, die Verse daraus vertont und gesungen.
JL: Stream or River, Flight or Pattern bringt verschiedene Zeiten und Orte zusammen, und es scheint, als würde es erst durch die Betrachter*in vervollständigt werden, die die Arbeit im Hier und Jetzt erlebt. Das ist ein anderer Umgang mit Zeit als bei anderen Arbeiten oder Installationen, in denen es eine Version gibt, mit der die Arbeit zunächst abgeschlossen ist. Und dann gehst du ein paar Jahre später zurück und machst eine weitere Version davon.
JJ: Der Grund, warum ich zurückgehe und neue Versionen mache, ist teilweise der Versuch, die Arbeit zu verbessern. Oder ich versuche, bestimmte Elemente neu zu kontextualisieren und sie dadurch zu verändern, damit sie sich auf eine neue Arbeit beziehen. Wenn ich mit einer Version nicht zufrieden bin, arbeite ich oft weiter an ihr. Aber ich mache das nicht nur um des Machens willen.
JL: Sicher.
AL: Ich würde gerne auf die Beziehung zwischen der Technologie und der realisierten Arbeit zu sprechen kommen, und auch darauf, wie du Inhalte darstellst: Was sind zurzeit deine Gedanken dazu, wie ein Tier sieht und wie du mit der Kamera oder im Bearbeitungsprozess darauf eingehen kannst? Ich beziehe mich insbesondere auf einige eindrucksvolle Momente in deiner Performance Moving Off the Land in Tjarnarbíó, Reykjavík [2017], in denen es mir so vorkam, als würdest du die Art und Weise aufgreifen, wie ein Fisch sehen kann.
JJ: Nun ja, das weiß ich noch nicht. Aber ich kenne einen Wissenschaftler, der unter anderem damit experimentiert, wie Fische sehen. Ich hatte vor, mit ihm zusammenzuarbeiten, aber ich hatte noch nicht die Gelegenheit dazu. Aber so kam dieses Thema auf. Und es gab auch Artikel darüber, wie Fische fühlen und dass sie gerne berührt werden und dass sie depressiv werden. Solche Dinge. Wie nehmen Fische wahr? Ich finde das sehr interessant. Ich habe auch Beschreibungen von Wesen einbezogen, die ich für wundersam halte, wie den Oktopus. Das ist ein Work-in-Progress, eine fortlaufende Forschung.
AL: Während du an einer Performance arbeitest, weißt du also noch nicht, an welchem Punkt da das theatralisch-kinematografische Instrumentarium zum Einsatz bringst?
JJ: Das mache ich andauernd. Aber das läuft experimentell ab und ich weiß nicht immer, wohin die Improvisation führt. Ich habe Moving Off the Land dreimal gezeigt, in Kochi, Indien, in Wien und in Island. Jedes Mal lote ich die Spielarten neu aus und verändere die Performance währenddessen.
AL: Woher stammt der Titel?
JJ: Eine Freundin von mir, Ann Reynolds, hatte mir ein Gedicht von einem schottischen Schriftsteller geschickt. Er sagt diesen Satz zwar nicht, aber er kam mir in den Sinn, als ich ihm dabei zuhörte, wie er sein Gedicht vortrug. Es tauchte einfach in meinem Kopf auf, als ich gerade das Festland verließ. Das ist wirklich ein guter Titel dafür. Er ist auch Teil des Themas, wie die Wale. Sie kamen aus dem Meer an Land und kehrten dann ins Meer zurück. Ich beschäftige mich mit der Mythologie des Meeres. Das wird in Zukunft einer meiner Schwerpunkte sein, denn der Mythos ist generell ein Thema in meiner Arbeit. Wie beginnt der Mythos? Das ist ein Thema; der Mythos des Meeres, die Meerjungfrauen, sie kommen an Land und kehren dann ins Meer zurück.
AL: Vielleicht ist das eine der letzten Fragen zu Stream or River. Es stimmt, dass die drei Videos sehr unterschiedlich sind, obwohl sie sehr gut zusammenpassen. Was sie jedoch alle gemeinsam haben, ist die Präsenz von Straßen, Tunneln und Wegen, durch die man geht, sie sind immer da und in deinen Arbeiten oft gegenwärtig. In einem Interview mit Ann Reynolds erwähnst du Paul Sharits im Zusammenhang mit diesen Korridoren. Und ich habe mich gefragt, warum genau?
JJ: Weil er einen Film gemacht hat, in dem die Kamera durch einen Korridor zoomt, während der Schnitt schnell vor- und zurückspringt. Aber ich weiß nicht, warum ich ihn erwähnt habe, denn ich bin von diesem Werk nie beeinflusst worden, obwohl es großartig ist. Michael Snow zoomt in Wavelength [1967] ebenfalls heran, langsam. Das ist eine ganz natürliche Sache, die man bei Film und Video mit einer Kamera macht: Man zoomt oder man zoomt nicht. Beim Kameraraum geht es zu Teilen darum, Tiefe zu erzeugen, um die Illusion von Tiefe, genau wie in der Malerei. Aber mit der Kamera ist es natürlich ein bewegtes Bild. Man bewegt sich in den Raum hinein. Ich finde das sehr reizvoll, die Kamerafahrt die Straße hinunter oder in einen Tunnel hinein.
JL: Diese Idee, sich in den Kameraraum zu begeben, ist interessant, denn eines der Hauptthemen in deiner Arbeit ist der Raum. Du verhandeln ständig zwischen dem Medienraum, dem Kameraraum, dem Zuschauer*innenraum und dem tatsächlichen Raum. Du erforschst all diese verschiedenen Tiefen.
JJ: Ja, denn als ich anfing, ging es um Fragen wie: Was ist der Raum der Performance? Was ist der Raum dessen, was man aufnimmt, der Außenraum? Wie findet man einen Rahmen dafür? Und auch der Schnitt. Und der Raum im Monitor sowie der Monitor selbst, wie er im Raum steht. Das spiegelt sich im Glas des Monitors in Glass Puzzle [1974/2000] wider. Der Raum existiert auf verschiedenen Ebenen: der Kameraraum, der tatsächliche Raum und das Erzeugen einer Illusion von Raum.
JL: Genau. Und dann noch der Faktor Zeit: ein Teil ist aufgezeichnet, ein Teil ereignet sich im Moment. All diese verschiedenen Wahrnehmungsebenen bringst du für die Betrachter*innen zum Vorschein.
JJ: Ja. Die Leute fragen mich immer nach der Zeit. Die Zeit ist ein Teil davon. Sie ist nicht etwas, das ich konzeptualisiere. Ich gehe mit dem Raum auf sehr physische und bewusste Weise um. In Video, Film und Performance gehört die Zeit dazu. Wie lange dauert es, sich von hier nach dort zu bewegen? Wieviel Zeit bleibt noch? Ich warte ab. Lasse ein Bild aufblitzen – eine Erinnerung. Ich arbeite mit der Zeit, aber ich plane sie nicht im Voraus. Ich stelle verschiedene Zeiten nebeneinander und warte ab, wie sie aufeinander einwirken.
AL: Um beim Thema Raum zu bleiben: Du hast vor kurzem begonnen, das Raster als Hilfsmittel zu verwenden. Es hat eine sehr offensichtliche Präsenz, man nimmt es direkt wahr, wenn man an einem Bildschirm vorbeigeht – wie in Reanimation oder in Double Lunar Rabbits [2010]; wie ein Schatten auf dem Bildschirm. Gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass du begonnen hast, Raster zu verwenden?
JJ: Am Anfang hatte ich die Idee: „Ich möchte eine Projektionsfläche bauen, die auf den japanischen Häusern mit dieser Rasterstruktur basiert.“ Und hinterher habe ich dann den Effekt gesehen.
AL: Ich verwende den Begriff „Raster“ in Anlehnung an Rosalind Krauss, die das Raster als eine Figur beschrieben hat, um die Rolle der Zeit in der spätmodernen Skulptur neu zu überdenken und damit die Skulptur für die Performance zu öffnen.
JJ: Das kann man so sagen, denn ich bin daran interessiert, für das Video Strukturen oder Orte zu entwerfen. Deshalb war ich froh, als Carolyn [Christov-Bakargiev] mich bat, diese Arbeit für ein vorgefertigtes Haus im Garten zu machen, statt für die Galerieräume der documenta [13, 2012]. Ich finde nicht, dass die Arbeit in dem Haus wirklich gelungen ist. Die Idee oder das Konzept mit diesem kleinen Haus war, dass die Leute das Video und die Installation durch die Fenster betrachten und das Haus nicht betreten sollten. Die Videos in Reanimation waren damals die gleichen wie heute. Die Idee, das Haus nicht betreten zu können, gefiel mir zwar, aber ich glaube nicht, dass es gut funktioniert hat. Es war nicht die beste Art, sich die Videos anzusehen. Also wollte ich ein anderes Haus bauen, in das man hineingehen kann, um die Arbeit von innen zu sehen. Die freistehenden Leinwände von Double Lunar Rabbits und später von Reanimation hatten Rückprojektionen, weil ich wollte, dass das Publikum sowohl um sie herum als auch in sie hineingehen konnte. Außerdem wollte ich nicht, dass das Publikum Schatten wirft. Zuerst hatte ich in Double Lunar Rabbits diese Papier- und Holzschirme. Die Idee dazu kam mir, als ich in Japan war und mit dem CCA in Kitakyushu arbeitete. Ich wollte gebogene Leinwände herstellen, um Double Lunar Rabbits zu zeigen, und arbeitete mit der Idee des sho-ji, des Hauses. Was mich daran interessierte, war die Tatsache, dass die Kurven aus bestimmten Winkeln immer wieder Teile der Bilder abschnitten, wenn man sich im Raum bewegte. Später wurden solche Leinwände für Reanimation entworfen.
AL: Man könnte durch die Ausstellung gehen und ablesen, wie sich deine Beziehung zu den Medien verändert hat: die Erfindung von Bildschirmen, die Erfindung von Formaten, und wie sich deine Art zu filmen, zu bearbeiten und dein Umgang mit bewegten Bildern im Allgemeinen im Laufe der Zeit gewandelt hat. Aber etwas, das immer da ist, und das ist sehr typisch für dich, ist die Stimme und die Art und Weise, wie du die Stimme einsetzt. Hattest du eine Ausbildung? Wie hast du angefangen, mit deiner Stimme zu arbeiten? Und wie fühlst du dich damit, dass du deine Stimme schon über so viele Jahre hinweg auf diese präzise und sehr spezifische Weise einsetzt?
JJ: In meiner frühen Arbeit habe ich noch nicht mit meiner Stimme gearbeitet, weil ich mich nicht wohl dabei fühlte und auch keinen Grund dazu hatte. Ich bin mit Text nie auf diese Weise umgegangen. Vielleicht ein paar Worte hier und da. Ich habe keine richtige Ausbildung gemacht. Ich habe mich selbst trainiert. Ich nahm mich selbst auf, hörte es mir an, korrigierte und nahm erneut auf. Das habe ich eine ganze Weile so gemacht, als ich anfing, meine Stimme zu benutzen. Und dann, als ich begann, Märchen zu erzählen und kompliziertere Geschichten, konnte ich hören, ob meine Stimme funktionierte oder nicht. Die Arbeit mit der Wooster Group war eine weitere Gelegenheit zu sprechen. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum ich die Mascha in Drei Schwestern gespielt habe. Ich wollte die Erfahrung machen, mir Texte einzuprägen, sie zu sprechen und mit meiner Stimme zu arbeiten. Und ja, ich mache damit weiter, weil sie zu den Dingen gehört, die ich besitze. Sie ist eines meiner Werkzeuge, weswegen ich sie gerne benutze. Aber es ist schwierig. Sie ist rau geworden ... vor der Performance in Island habe ich eine Menge Butter gegessen. Und das hat geholfen.
JL: Wirklich?
JJ: Ja, das tut es wirklich. Es hilft deinem Hals. Ich wollte Gesang bei La Monte Young in New York studieren. Ich ging zum ersten Treffen, und er und Marian [Zazeela] sagten mir, dass ich ein Viertelpfund Butter pro Tag essen müsse, um mit ihnen zu arbeiten, und da habe ich sofort aufgehört. Mit ihm zu studieren, wäre interessant gewesen, aber nicht, ein Viertelpfund Butter zu essen. So machen es allerdings die Native Americans. Die Butter schmiert die Kehle.
AL: Aber du singst sehr selten oder nie.
JJ: Früher habe ich gesungen. In meinen ganzen frühen Arbeiten singe ich. Oder belle. Oder heule. Ich habe manchmal darüber nachgedacht, meine Stimme wieder auf diese Weise einzusetzen, aber das habe ich schon lange nicht mehr getan. Aber ich kann nicht mehr singen. Meine Stimme bricht. Das ist das Alter.
AL: Es gibt einen Satz – ich weiß nicht mehr, wo ich ihn gelesen habe –, in dem du sagst, dass du anfingst zu heulen und zum Hund wurdest. Liege ich da falsch?
JJ: Nein, das habe ich gesagt. Ich bin mir sicher.
AL: Du hattest die Absicht, deinen Zustand durch den Akt des Bellens zu transformieren.
JJ: Richtig.
AL: Warum heulst du eigentlich am Ende von...
JJ: Nun, ich heule am Ende von Organic Honey. Denn eines der Bücher, die ich zu der Zeit las, war Djuna Barnes’ Nightwood [1936], wo sie zu einer Art Hund wird und heult. Das hat mich beeinflusst. Und dann wurde ich selbst in der Arbeit zu einem Hund.
Deutsche Übersetzung: Verena Buttmann (linguistic.services)