Der Islamwissenschaftler Saud Al-Zaid reflektiert das Werk der Künstlerin Monira Al Qadiri und die Leere im Kontext der kulturellen Imagination Kuwaits.
In der Geschichte Kuwaits erinnert man 1831 als das Jahr der Pest, sanat al-ta’un. Es handelt sich um eine weithin sichtbare Wendemarke, die die Kuwaiti’sche Geschichte in eine Zeit vor und eine Zeit nach der Pandemie unterteilt. Bezeichnenderweise starb mehr als die Hälfte der Bevölkerung infolge der Krankheit. Die große Mehrheit davon waren Frauen, Kinder und alte Menschen. Der Grund hierfür war nicht, dass die Krankheit diese Bevölkerungsgruppen in einem epidemischen Ausmaß heimgesucht hätte, sondern dass die Männer nicht anwesend waren. Kuwait war primär eine Nation von Seefahrern. Die Pest breitete sich während der trockenen Monate des Monsuns aus, während derer von allen körperlich hierzu fähigen Männern erwartet wurde, dass sie im Golf nach Perlen tauchten oder den indischen Subkontinent und Ostafrika bereisten, um dort Handel zu treiben. Als die Männer zurückkehrten, sahen sie die Verwüstung: Kuwait schien praktisch menschenleer zu sein.
Monira Al Qadiri ist die vielleicht bedeutendste heute tätige Bildende und Konzept-Künstlerin Kuwaits. Al Qadiris Werk verbindet das Politische und seinen Ausdruck im kulturellen Artefakt. Das Werk selbst ist häufig extrem psychologisch, schockiert zunächst und wirkt hinsichtlich seiner Implikationen lange nach. Sehen wir uns einige Beispiele an. Ein ebenso schöner wie komplexer Gegenstand, der zunächst fremdartig anmutet, erweist sich in der Folge als Bohrmeißel für die Ölförderung, dem Lebensblut der kuwaitischen Wirtschaft. Al Qadiri nimmt eine überproduzierte Seifenoper aus den Golfstaaten und fügt einen ausländischen, im Original nicht vorhandenen Diener in diese ein. Fremdarbeiter erlauben es der kuwaitischen Gesellschaft, sich dem luxuriösen, vom Öl finanzierten Leben der Dekadenz hinzugeben
Wie der Bohrmeißel fehlt der Diener zwar in der alltäglichen kuwaitischen Imagination, ist aber dafür in der durch ihn ermöglichten Wirklichkeit allgegenwärtig. Für Al Qadiri ist Öl ein Fremdkörper, der in einer Gesellschaft gelandet ist, die ohne ihn extrem arm wäre. Einerseits bildeten Kuwait und die Golfstaaten einen Fortsatz der Sahara-Wirtschaft. Die Wüste war die Hauptbürde und das Lebensblut. Das Alltagsleben wurde von der den Eigenbedarf deckenden Oasenwirtschaft und der Kamel-, Schaf- und Pferdehaltung geprägt, die Transportmöglichkeiten für Mekkapilger bereitstellte. Andererseits handelte es sich um die Kolonie einer Kolonie. Kuwait war eine osmanische Grenzstadt, die mit Indien, das selbst Teil des British Empire war, Tauschhandel mit Perlen und Reis trieb. Kuwaitis verbrachten einen Großteil der 1800er Jahre damit, sich psychologisch von der Pest zu erholen. 1900 war Dschibuti am Horn von Afrika, das Kuwait in puncto Größe und anderer Faktoren vergleichbar ist, ein wesentlich wohlhabenderer Staat. Dann kam das Öl.
Innerhalb dieser Wirklichkeit gibt es, grob vereinfacht, eine Gabelung von Kuwaitis Ursprung. Kuwait gehört teils zu Wüste und teils zum Meer. Es ist sowohl ein frommer muslimischer Staat und ein Staat des kosmopolitischen Konsums. Ohne allzu tief in die politische Geschichte Kuwaits einzutauchen, spielte das Land stets eine regionale Rolle als eine Art Mittler zwischen konkurrierenden Tendenzen. Zwischen den Krieg führenden Beduinenstämmen der Wüste und den persischen Dynastien im Osten. Zwischen den Zielsetzungen des britischen Imperialismus und muslimischen antikolonialen Bestrebungen. Kuwait ist sowohl geografisch als auch seinem Begriff nach eine Grenzstadt. Diese Rolle äußert sich häufig als die Angst vor der Möglichkeit, unbedeutend zu sein. Der Angst Kuwaits, nicht mehr zu existieren, wenn es seine Bedeutung einbüßt. Einer Rückkehr zur Leere von 1831, sanat al-ta’un.
Holy Quarter besteht aus Filmmaterial aus dem Empty Quarter — der trockensten Wüste der Welt, die sich in der Grenzregion der Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabiens, Jemens und Omans befindet. Obwohl die Sahara fünfzehnmal größer ist als das Empty Quarter enthält sie nur zweimal so viel Sand. Innerhalb der Arabischen Halbinsel ist sie der genaue Gegenpol zu Kuwait; topologisch ist sie der am weitesten entfernte Punkt, den man innerhalb derselben Landmasse noch erreichen kann. Der Kosmopolitismus einer florierenden Hafenstadt, die mit der Welt durch das Befahren der sieben Meere verbunden ist. Im Gegensatz hierzu die Wüste, die fast niemand je durchquert hat.
Und doch begibt sich die menschliche Imagination genau dorthin, um sich selbst zu finden. Oder besser gesagt, um dem Gott Abrahams zu finden. Der gemeinsame Ursprungsmythos der Araber und des Islam steckt in der Geschichte Abrahams, der Ismael und seine Mutter Hagar in der Wüste verlässt, weil Gott ihm dies befiehlt. In der hebräischen Bibel liegt die Wüste in Beerscheba. Die Muslime hingegen glauben, dass sie sich in Mekka befand. Doch jede Wüste würde passen, da die Bedeutung in ihrer langsamen Verödung liegt. Im Von-Gott-Verlassensein, im allmählichen Dahinschwinden des Lebens im leeren trockenen Wüstensand.
Dem abrahamitischen Mythos zufolge blieben Hagar und Ismael mit einem heiligen Fels zurück, der mit Adam und Eva vom Himmel fiel. Der mutmaßliche Meteor ist heute der Eckstein der Kaaba, des kubusförmigen Gebildes inmitten Mekkas, und die Richtung, in der Muslime fünf Mal am Tag ihr Gebet verrichten. Dieser Fels ließ Mekka bereits vor der Erscheinung des Islams zu einem wichtigen Pilgerort werden. Viele Jahre, bevor er zum Propheten des Islam wurde, war der junge Mohammed mit einem Restaurierungsprojekt betraut worden, nachdem die Fassung des Felsen infolge einer Flut zerbrochen war. Später änderte Mohammed die Richtung, in der Muslime beteten, von Jerusalem zu dem Fels in Mekka. Viele Gelehrte betrachten diese Entscheidung als den Gründungsmoment von Mohammeds Bewegung. Der Fels ist das heiligste Objekt im Islam, ja vielleicht das einzige Objekt überhaupt.
Al Qadiri lässt viele dieser Verbindungen auf schockierende Weise deutlich werden. Der flüssige Charakter der schwarzen Perle, die vor der Projektion steht, tritt deutlich in Erscheinung. Der geheimnisvolle Erzähler in Holy Quarter warnt uns »Hüte dich vor dem Fluch der schwarzen Perle« und verbindet so eindeutig den heiligen Felsen mit Öl, das der trockene Boden begierig aufsaugt. Die Gabelung bedroht hier die Existenz, nicht nur die Leere oder Dekadenz, sondern die Tatsache, dass zwei Gegensätze nicht am selben Ort und zur selben Zeit vorhanden sein sollten. Die Wüste wird alle Widersprüche zusammenfassen. Oder ist es das Heilige? Der Protagonist Wabar versichert uns, dass sie uns beschützen werden, so wie der Gott Abrahams versprach, dass er den kleinen Ismael und seine Mutter beschützen werde. Die Männer waren einfach nicht da.
Saud Al-Zaid ist ein Wissenschaftler für das radikal-islamische Denken und die islamische Ästhetik. Er ist in Berlin ansässig und hat öffentliche Vorträge u.a. auf der Re:publica, der Berlin Biennale, dem Chaos Computer Club Congress und dem Computerspielemuseum gehalten.