Dieser Blog-Beitrag skizziert den Dialog zwischen Michael Armitages Werken und der europäischen Kunstgeschichte nach.
Neben Künstler*innen der ostafrikanischen figurativen Malerei der 1970er-90er Jahre wie Meek Gichugu, Sane Wadu, Jak Katarikawe oder Theresa Musoke treten Michael Armitages Werke zugleich in einen Dialog mit Werken berühmter Maler*innen der westlichen Kunstgeschichte. Daher wirken Armitages Gemälde auf das durch die europäische Kunstgeschichte geschulte Auge seltsam vertraut, ähnlich wie bei einem Déjà-vu Erlebnis.
In kompositorischen Elementen, Motiven oder Farbkombinationen findet sich die Ikonografie von Tizian, Francisco de Goya, Édouard Manet und Paul Gauguin wieder. So thematisiert Michael Armitage, der in Kenia aufgewachsen ist, geschickt den europäischen Blick und den damit verbundenen Exotismus in der Betrachtung des Anderen und verschärft zugleich unser Bewusstsein für das Nachwirken kolonialer Haltungen gerade auch in der Verbindung mit den eigenen ästhetischen Vorlieben und Sehgewohnheiten.
Michael Armitages „The Fourth Estate“ (2017) inspiriert von Goya
Einer der historischen Künstler, die Michael Armitage zu diesem Werk inspiriert haben und dessen Bildideen er in seinen Werken integriert, ist der spanische Künstler Francisco de Goya. Gleichsam mit dem Gemälde „The Fourth Estate“ zeigt eine Radierung des alten Meisters mit dem Titel „Disparate ridiculo“ (Lächerliche Torheit), entstanden um 1820, eine Gruppe von Figuren auf einem großen Ast sitzend unter dem sich eine Menschenmenge versammelt hat. In „The Fourth Estate“ haben einige Figuren in der ausladender Krone Platz genommen, aber im Gegensatz zu Goyas Bild ist ihre Aufmerksamkeit auf ein Ereignis gerichtet, das sich in größerer Entfernung im Bildhintergrund abspielt. Aber nicht nur auf formaler, sondern auch auf inhaltlicher Ebene lassen sich Parallelen zu Goya zugehöriger Grafikserie „Los Disparates“ (Die Torheiten) ziehen, die sich kritisch mit den politischen Bedingungen im Spanien des frühen 19. Jahrhunderts auseinandersetzt.
Michael Armitage schuf die „Kenyan Election Series“ zwischen 2017 und 2019. Die Serie umfasst insgesamt acht Bilder, die Michael Armitage nach einer Wahlkampfveranstaltung im Uhuru Park in Nairobi malte. Der im Herzen von Kenias Hauptstadt gelegene Park ist seit den 1970er Jahren Schauplatz politischer Massenveranstaltungen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 in Kenia, besuchte Armitage eine Kundgebung der Oppositionspartei, deren Spitzenkandidat Raila Odinga zum vierten Mal in Folge den Amtsinhaber Kenyatta herausforderte. Da Odinga den Ausgang der vorangegangenen Wahl angezweifelt hatte, gab es im Land Unruhen und Proteste, die Michael Armitage mit visueller Wucht ins Zentrum des Bildgeschehens rückt. Auch diese Wahl ging zu Gunsten des bisherigen Präsidenten Kenyatta aus. Die Stimmung im Uhuru Park und auf den Straßen der Hauptstadt war ausgelassen und von Unruhen und Chaos geprägt. Im Atelier verwandelt Armitage seine Beobachtungen in eine teils rätselhafte Szenerie, in der einige Menschen grüne Perücken tragen, und statt politische Statements prangen überlebensgroße Kröten auf den Bannern.
Die Laokoongruppe im Gemälde „Nyayo“ (2017)
Im Zentrum des Gemäldes "Nyayo“ von Michael Armitage steht die Figur eines muskulösen, nackten Mannes, um dessen rechte Wade sich eine Schlange windet. Diese Figur erinnert unmittelbar an die berühmte Laokoon-Gruppe in den vatikanischen Museen, eine antike Skulpturen-Gruppe, die den antiken Mythos des Todeskampfes des Priesters Laokoon und seiner beiden Söhne durch aus dem Meer kommenden Schlangen imaginiert. In der Kunstgeschichte wurde insbesondere die Darstellung des Schmerzes der Marmorgruppe oftmals rezipiert, der sich in allen Muskeln und Sehnen der Körper zeige, während das Gesicht des Laokoons keinen lauten Schrei, sondern ein stilles Ertragen der Schmerzen erkennen lasse.
Der Titel des Bildes „Nyayo“- bedeutet wörtlich übersetzt „Fußspuren“. Dieses Wort verwendete der autokratische Machthaber Daniel Arap Moi als Wahlslogan. Mit seinem Amtsantritt wurde auch ein Regierungs - und Verwaltungsgebäude in Nairobi, „Nyayo House“ genannt. Das „Nyayo House“ ist mittlerweile für seine unterirdischen Haftzellen bekannt, in denen Regimekritiker in den 1990-er Jahren inhaftiert und gefoltert wurden. Um politische Gegner zu einem Geständnis zu bewegen, lies das Moi-Regime Augenzeugenberichten zufolge Schlangen in deren Zellen bringen. Die Gefangenen mussten dabei annehmen, dass es sich um giftige Schlangen handle.
Die Komposition von Tizians „Die Himmelfahrt der Jungfrau Maria“ (1516-18) im Gemälde „Pathos and the twilight of the idle" (2019)
Die Komposition und Farbgebung des Gemäldes „Pathos and the twilight of the idle" von Michael Armitage erinnert an ein berühmtes Gemälde des venezianischen Künstlers Tizian. Tizian, geboren als Tiziano Vecellio, war Meister der venezianischen Malerei seit dem Tag, an dem sein Lehrer Giorgione 1510 starb. Sein erstes anerkanntes Meisterwerk „Die Himmelfahrt der Jungfrau Maria“ vollendete er 1518 - ein massives Altarbild von 690 x 360 cm in der Kirche Santa Maria dei Frari in Vendig. „Die Himmelfahrt der Jungfrau Maria“ machte Tizian zu einem gefragten Meister der Komposition, der kühnen Farben und der hohen Dramatik. Doch anstelle von Engeln und Wolken steigen bei Armitages „Pathos and the twilight of the idle" Tränengas und Rauchwolken auf.
Ein Pavian in der Pose von Édouard Manets „Olympia“ (1863)
In Armitages Tiergemälden treten die Affen als prüfende Spiegelbilder des Menschen in Erscheinung. Als grenzüberschreitende Wesen verkörpern sie die Verwandtschaft und die Überschneidungen menschlicher und animalischer Eigenschaften. Auf dem Gemälde „Baboon“ präsentiert sich ein Pavian in halbliegender verführerischer Pose, die entfernt an Édouard Manets provokative Olympia (1863) erinnert. Im 19. Jahrhundert lenkte das Gemälde der „Olympia“ in ungewohnt radikaler Weise die Aufmerksamkeit auf die Macht des Blicks. Die langen, ausgestreckten Extremitäten des Tiers wirken dabei menschlich. Doch im Gegensatz zu Manets Bild verdeckt nicht eine Hand, sondern eine üppige Bananenstaude, den Schritt des Pavians. Damit treibt Armitage die klischeehaften Bilder und sexuellen Fantasien, mit denen der schwarze männliche Körper bis heute belegt ist, ins Karikaturhafte.
Der Akt des französischen Malers Eugène Henri Paul Gauguin im Werk „The Promised Land“ (2019)
„The Promised Land“ zeigt eine aufmarschierende, dröhnende Menschenmenge, die an die chaotischen und unüberschaubaren Szenen gewaltgeladener Demonstrationen während der Wahlen in Kenia erinnert. Eine Fahne hebt sich vom Bildhintergrund ab, die einen liegenden weiblichen Akt zu erkennen gibt. Dieser Akt ruft unweigerlich das Gemälde „Nevermore“ (1897) des französischen Malers Eugène Henri Paul Gauguin ins Gedächtnis. Es verkörpert wie viele weitere von Gauguins Werken eine exotisierende Ästhetik, in der sich der westliche Blick auf das (weibliche) außereuropäische Andere, - das ebenso faszinierende wie befremdliche Unbekannte offenkundig manifestiert. Bei Gauguin wird das Fremde, die südpazifische Insel Tahiti, die viele seiner Werke inspirierte, als farbenfrohe Gegenwelt zu seinem tristen Leben in Paris stilisiert - ein exotisches Naturparadies als Fluchtort für den Ausbruch aus der bürgerlichen Enge. Die Darstellungen der als Paradies und Zufluchtsort imaginierten Insel sind bei Gauguin vor allem Abbild der in ein historisch gewachsenes Machtgefälle eingebetteten eigenen Projektion; ein Verhältnis, das Armitage in seiner künstlerischen Geste der Aneignung und Umdeutung Gauguins exotisierter Bildwelt letztlich umkehrt. Gleichzeitig spiegelt „Nevermore“, wie in der Tradition des weiblichen Aktes die Kraft der Verführung verkörpernd bereits angelegt, den männlichen Blick auf den nackten weiblichen Körper. Bei Armitage wiederum erfährt der liegende weibliche Akt auf der Fahne, das ikonenhaft zur Schau gestellte weibliche „Objekt der Begierde“, in der Zusammenschau mit seinem Interesse an den Verlockungen, die mit der Verbreitung einfacher Wahrheiten, verführerischer Versprechungen, propagandistisch verbreiteter politischer Ideologien einhergehen, eine neue Bedeutung.
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Den Blogbeitrag zu den ostafrikanischen Künstler*innen finden Sie unter: Mwili, Akili na Roho – Ostafrikanische figurative Malerei der 1970er — 90er Jahre