Gekürzte Version. Den ungekürzten Text finden Sie im Katalog zur Ausstellung „Rebecca Horn“.
[…]
Das sechs Jahrzehnte umfassende, transmediale Œuvre Horns befasst sich mit dem Leben vor dem Hintergrund verwischender Grenzen von Natur und Kultur, Technologie und biologischem Kapital, Menschlichem und Nichtmenschlichem. Ob man die Künstlerin nun als Erfinderin, Regisseurin, Autorin, Komponistin oder Poetin bezeichnen mag, in erster Linie versteht sie sich als Choreografin. Horn beschreibt ihre Praxis als präzise kalkulierte Orchestrierung von Raum, Licht, Körperlichkeit, Ton und Rhythmus. Maschinenwerdung, Tierwerdung oder Erdwerdung, die sich in ihren Arbeiten vollziehen, zielen auf die von Körpern erfahrbaren Stimuli eines sichtbaren, fühlbaren und hörbaren Daseins – verkörpertes Verstehen.
Mit einer der frühesten Zeichnungen, Lippenmaschine (1964), thematisiert Horn schon im Alter von 20 Jahren den Körper als künstlerisches Ausdrucksmittel. Die feminisiert dargestellten roten Lippen scheinen als Organ radikal ihres Körpers beraubt, räumlich vermessen und wie gefangen in Linien, die an eine medizintechnische Zeichnung erinnern. Hier ist der Körper erfahrbar als zu beherrschendes, diszipliniertes und leistungsstarkes Material. Die offen sichtbare Durchlässigkeit von Körpergrenzen macht den individuellen Körper zu einem bedrohten. Eine Mensch-Maschine-Relation, die an dystopische Science-Fiction erinnert und deren Kontrolle bereits einer Art künstlicher Intelligenz obliegt. Der Einsatz von Muskelkraft weckt Vorstellungen von einer vorindustriellen Ära – oder befinden wir uns überhaupt schon in der Zukunft?
Der Körper kann hingegen auch als ein verbindendes Moment gedacht werden. Er ist leiblich-affektiv und in der Lage zu kommunizieren, Gefühle mitzuteilen. Stets in einer Fluidität befindlich zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit in der Erfahrung mit Anderen und Anderem. Er ist fähig, Schmerzen zu erleiden, Lust zu empfinden, Angst zu spüren und Widerstand zu entwickeln.
[…]
Mit Performances I (1972) und II (1973) widmet sich Horn Anfang der 1970er- Jahre über das Thema der Beherrschbarkeit hinaus jenem der Erweiterung des Körpers, indem sie mittels tragbarer skulpturaler Baumwoll- und Materialkonstruktionen die Entstehung fremdartiger Wahrnehmungen bewirkt. Die Extensionen beeinflussen die Bewegungen der Träger*innen und dehnen ihre körperlichen Grenzen, einhergehend mit einem extremen Erleben der Sinne. Die damit erzeugten Bewegungen sind von fantastischer Grazie oder aber sie lassen Schmerz ahnen wie bei Einhorn (1970–1972), das die Künstlerin auf Einladung von Harald Szeemann auf der documenta 5 (1972) präsentiert.
[…]
Die Performances setzen den menschlichen Körper Prozessen aus, durch die Körperwissen generiert wird. Extensionen wie der Balance-Stab oder Bewegliche Schulterstäbe (1971) erlauben außergewöhnliche physiologische Erfahrungen. Andere Objekte wie Kopf-Extension (1972) erfordern gleich mehrere Personen, um das Gleichgewicht der Akteur*innen zu bewahren. Über durch Schnüre ausgeübte Zugkraft wird die eigene Haltung zwischen Steuerung und Selbstkontrolle austariert. So verschränken sich Realität und Imaginäres in Körper- und Bewegungsbildern, die Nachdenken, Wahrnehmen und Erinnern anstoßen. Bewusst spricht sie das Körpergedächtnis an, so wie es auch in der Tanztechnik praktiziert wird. Bewegung wird so zu einer Erfahrung, die bereits im Zuge ihrer Codierung decodiert wird. Horn definiert zwar die Bewegungsausführung, zielt aber auf die Gewinnung individueller Körperinformationen ab. In den Mittelpunkt rückt ein poetisches und soziales Verständnis des Körpers, das seine Beziehungen zu den ihn prägenden Einflüssen aufzeigt und diese zugleich auch aufheben lässt.
[…]
Mit der dialogischen Koexistenz von Performer*innen und Publikum beginnt Horn die vielfältigen Inszenierungen von Wahrnehmungsbeziehungen in ihrem Œuvre. Vermeintliche Logiken des Verhältnisses von Innen und Außen werden in ihrer Widersprüchlichkeit und Bedeutsamkeit fühlbar gemacht. Horn zeigt anhand der Extensionen auf, wie die Energie unserer Körper mit dem Umraum verbunden ist. So vermittelt das neu digitalisierte Filmmaterial des Frühwerks in seiner großformatigen Präsenz als Ausstellungsauftakt, wie wir unsere Körper bewohnen und in welcher Weise Körper transformativ sind. Hier vollzieht sich eine kinetische Verlagerung ins Innere, ein Leitmotiv des gesamten folgenden Werks von Rebecca Horn.
[…]
Ihr in ein Ballettstudio umfunktioniertes Atelier in New York, wo sie ab 1972 über ein Jahrzehnt lang im Wechsel mit Berlin lebt, dient als Filmset für Der Eintänzer (1978). Es vollziehen sich dort fantastische Szenen, wobei das Ballett in der Filmhandlung allgegenwärtig ist, insbesondere aber in der Szene mit den Übungen der jungen Tänzerinnen, die sich, an Schnüren miteinander verbunden, einer mechanistischen Bewegungskontrolle unterwerfen. Der Mensch ist hier nicht mehr eins mit seinem Körper, ein programmatisches Sinnbild. In den auf Perfektion gerichteten Übungen tritt das Individuum in den Hintergrund. Das Verlangen nach absoluter Synchronizität erinnert an die Nivellierung von Mensch und Maschine auch im Rahmen effizienzorientierter wirtschaftlicher Organisationsformen und Disziplinarregimes im spätmodernen Kapitalismus, wie sie Michel Foucault in Überwachen und Strafen (1975) beschreibt. Der Tanz ist hier nicht Ausdruck von individuellen Gefühlen der Tänzer*innen, sondern passt sich dem Formwillen der Choreografie an. Horn benutzt die Symbolhaltigkeit der Bewegungen aus dem Tanz als Medium und Katalysator ihrer choreografischen Fiktionen. Mit einer Art von Moodboard zum Projekt lässt sich in der Arbeit Ohne Titel (In this room ...) (1977) nachvollziehen, welch großen Stellenwert der Tanz als Inspiration und Teil ihrer Biografie neben der frühen Erfahrung von Krankheit einnimmt. Stillstand geht bei Rebecca Horn einher mit Bewegung, Gegensätze und Widersprüche faszinieren sie.
[…]
Der Film ist eine bedeutende Ressource und ein starkes Moment für das Arbeiten mit Choreografie im Werk Rebecca Horns. So repräsentieren die Tänzerinnen im Film durchaus eine Vorstufe zu den späteren Bewegungsmaschinen. Gleichsam wie bei industriellen Prozessen bricht Horn in der Choreografie Arbeits- und Übungsabläufe in einzelne Elemente herunter. Durch rhythmische Wiederholung bewegter Skulpturen schafft sie Symbolfiguren wie in der tänzerischen Praxis.
[…]
So verwundert es nicht, dass sie auch in ihren langen Spielfilmen durch die darstellenden Wesen virtuos unterschiedlichste Wahrnehmungsebenen zirkulieren lässt, ob mittels Objekten, Menschen oder Tieren. Ihr letzter Spielfilm, Buster’s Bedroom (1990), ist in einer Psychiatrie namens „Nirvana House“ in Kalifornien angesiedelt. Über diese fiktiven Patient*innen vermittelt Horn komplexes Empfinden und vielschichtige Wahrnehmungsbeziehungen. Einmal mehr hinterfragt und umgeht die Künstlerin auf diese Weise Kategorien wie „gesund“ oder „abnorm“. Vielmehr zelebriert sie die Kraft der Fantasie und widmet den Film einer ihrer inspirativen Lichtgestalten, Buster Keaton, der selbst einst im Nirvana House therapiert wurde. Die Arbeit kann als Protest gegen staatliche Kontrolle und gesellschaftliche Diskriminierung von Körpern gelesen werden.
[…]
Rebecca Horns Œuvre ist ein lebenslanges und gegenwärtig brisantes Echo auf die voranschreitende Dezentrierung des Menschen. Sie thematisiert die Wechselwirkung der Sinne und stellt mittels Performativität die Sensualität des zur Umwelt situierten Körperleibes ins Zentrum ihres Schaffens, wobei sie nach neuen Vorstellungen von Gemeinschaft in einem kosmischen Ganzen sucht.