In einer Blog-Reihe stellen wir euch vier Videoarbeiten aus der Ausstellung "Brainwashed" genauer vor. In Kurzinterviews haben wir mit den vier KünstlerInnen über die Hintergründe und aktuellen Bezüge der in der Ausstellung gezeigten Arbeit gesprochen. Neben diesen spannenden Antworten und der Videoarbeit selbst haben sie uns außerdem erstmalig Zusatzmaterial zur Verfügung gestellt, das sie zu ihren Arbeiten inspiriert hat und das uns mehr über die sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen der KünstlerInnen verrät.
Der deutsch-norwegische Künstler Bjørn Melhus greift in seinen Arbeiten jeher global medienkritische Perspektiven auf. Er bedient sich gleichermaßen bekannten wie unbekannten Figuren aus Film und Fernsehen, wobei er vielfach in deren Rollen schlüpft. Mittels dieser künstlerischen Praxis lässt er manipulative Strategien sichtbar werden, die das Verhältnis von Massenmedien und Zuschauer bis in unsere heutige Gegenwart hinein reflektieren.
In The Oral Thing steht Bjørn Melhus als Moderator einer inszenierten Talkshow seinen eigenen Klonen gegenüber. Die beiden Geschwister artikulieren sich mit Kinderstimmen, und ihre Aussagen könnten einer durchschnittlichen amerikanischen Familientalkshow entstammen, in der private Konflikte öffentlich ausgetragen werden. Die Gäste wie auch der Moderator wiederholen sich stetig selbst – die wiederkehrende Frage- und Antwort-Praxis lässt an Konzepte der psychologischen Manipulation denken. Melhus begibt sich mit Kleidung und Habitus in die Rolle eines beängstigenden Heilsbringers.
An das Phänomen des Reality-TV angelehnt, sollen den Zuschauern eine Form von Identifikation mittels alltäglicher menschlicher Probleme suggeriert und eine persönliche, emotionale Bindung zum jeweiligen TV-Format aufgebaut werden. Melhus hat die ironische Selbstinszenierung als Prediger, der seine Gäste nur zum Zwecke der Unterhaltung vorführt, gewählt, um so das Reality-TV an sich zu dekonstruieren. Er persifliert dessen Strategien, indem er diese ins Leere laufen lässt: Die Talkshow endet abrupt ohne ein versöhnendes Finale.
Fragen an den Künstler Bjørn Melhus
Haus der Kunst: In welchem Zusammenhang ist diese Arbeit entstanden? Was hat dich zu der Arbeit veranlasst?
Bjørn Melhus: Ich habe mich bereits seit meinem ersten längeren USA-Aufenthalt in den 1990er Jahren mit dem TV-Unterhaltungsformat der "Daytime-Talkshow" auseinandergesetzt. Das sind diese Gesprächsrunden, in den Kandidat*innen mit grotesken Geständnissen kommen, über ihre Sexualpraktiken reden oder Vaterschaftstests verhandeln. Im Gegensatz zur Primetime, also am Abend, laufen diese Fernsehshows tagsüber, um die Zeit zwischen den Werbeblöcken mit Unterhaltung zu füllen. Fasziniert wie auch angeekelt von dem Format, habe ich mich dann eingehender mit der Geschichte und verschiedenen Formen beschäftigt. Aus zahlreichen Aufnahmen aus dem US-Amerikanischen Fernsehen habe ich mich dann auf verschiedene Folgen einer Show konzentriert, aus der ich das Tonmaterial zitiere, jedoch neu strukturiert, um eine neue Erzählung zu schaffen, die das Format selbst und dessen Psychologie reflektiert. Wie in vielen meiner anderen Arbeiten, verkörpere ich dann auch alle Figuren selbst. Ein Anlass war auch die Herausforderung dieser Umformung oder Transformation.
Haus der Kunst: Was bedeutet dir diese Arbeit?
Bjørn Melhus: The Oral Thing bedeutet mir auch nach 20 Jahren noch sehr viel. Es ist mittlerweile ein Zeitdokument - aber gleichzeitig auch noch sehr aktuell. Ungefähr 5 Jahre nach der Fertigstellung der Arbeit, war ich dann selbst einmal als Publikum in der Show, aus der ich den Ton zitiert habe. Das war dann schon ein komisches Gefühl, neben der grotesken Hirnwäsche auch die Realität der Inszenierung zu erfahren, inklusive eines grölenden Publikums, das am Ende mit Pizza belohnt wird.
Haus der Kunst: Was bedeutet Brainwashed im gegenwärtigen Medienzeitalter für dich?
Bjørn Melhus: Rückblickend war die Entstehungszeit der Arbeit noch weit von unserer heutigen medialen Gegenwart entfernt. Sogenannte Soziale Medien waren noch nicht erfunden, aber den Kopfsprung ins Seichte, die durchgehende Entertainisierung des täglichen Lebens, hat es auch damals schon gegeben. Aber was wir gegenwärtig medial erleben, insbesondere auch durch den weltweiten Ausnahmezustand und Lockdown angefeuert, ist spektakulär und verstörend zugleich. Ein weiterer Quantensprung in die Medialisierung des Sozialen, mit all seinen unterschiedlichen Narrativen, von denen sicher auch einige als "Brainwashed" bezeichnet werden können.
Kuratorin Jana Baumann erklärt:
Bjørn Melhus lieferte mit seiner Arbeit The Oral Thing unter anderem maßgebliche Inspiration für die Idee zur Ausstellung. Mit seiner faszinierenden künstlerischen Praxis des Self-Staging, eine Art Selbstverkörperung der ausgewählten Protagonisten, lässt er uns an einer faszinierenden wie auch aufklärerischen Transformation teilhaben. Seine präzise inszenierte Video-Arbeit vermittelt einen Höhepunkt des Fernsehzeitalters rund ums Millennium. Zugleich erscheint das Werk rückblickend als ein Vorzeichen für die totale Medialisierung unseres Lebensalltags, die von manipulativen Interessen durchzogen ist, ob im kommerziellen oder politischen Kontext. Bjørn Melhus lässt uns mit seinen Skizzen am Prozess der minutiös geplanten dramaturgischen Abläufe seiner Filmproduktion teilhaben. Durchdachte Aufeinanderfolge von skizzierten Mimiken seiner Protagonisten zu den kurzen Dialogen, im Stil eines scharfen Wortwechsels, hält er in seinen Studien fest. Die Backstage-Fotos von sich selbst in den schillernden Kostümen zeugen vom Glamour und zweischneidigen Versprechungen einer Medienlandschaft.
The Oral Thing von Bjørn Melhus ist derzeit Teil der Ausstellung "Brainwashed" der Sammlung Goetz im Haus der Kunst.