Mitte April wurde die Website vom Haus der Kunst für 4 Tage zum Kunstwerk mit der digitalen Präsentation von Franz Erhard Walthers Werk "Anwesenheit", 2020, im Rahmen seiner Retrospektive "Shifting Perspectives". Zeitgleich startete die für 40 Tage laufende Projektion derselben konzeptuellen Arbeit auf der Westfassade vom Haus der Kunst von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang.
In einer Zeit, die uns Distanz abverlangt, gilt es dennoch Nähe zueinander zu wahren. Öffentliche Räume nicht zu verlieren, sondern sie zu transformieren. Neue Formen eines Miteinanders auszuprobieren und füreinander zu agieren. Die Institution Museum ist gegenwärtig mehr denn je aufgefordert – innovative Wege zu finden, die Menschen an künstlerischen Inhalten, unabhängig von einer Örtlichkeit, teilhaben zu lassen. Die Grenzen der Architektur zu überwinden, Inhalte von innen nach außen zu kehren.
Der Mensch und dessen Beziehung zu Raum, Ort und Zeit stehen seit Beginn im Mittelpunkt des sechs Jahrzehnte umfassenden künstlerischen Lebenswerks von Franz Erhard Walther. Seine vierteilige Spracharbeit "Anwesenheit" besteht aus den folgenden Sätzen:
KÖRPER SIND DIE GRENZE
DEM RAUM ENTGEGEN
DER ZUFALL DER GESCHICHTE
KÖRPER IN DER GEGENWART
Der Körper und die Sprache dienen ihm gleichermaßen als Material, mit denen er an die Einbildungskraft des Betrachters appelliert. Auf diese Weise widmet er sich jeher den Gegensätzen von Statischem und Transitorischem, von Materiellen und Immateriellen.
Bereits mit den frühen Wortbildern der 1950er Jahren richtet sich Walther an die menschliche Vorstellungskraft, um individuelle Assoziationen zu vermeintlich fernen Orten wie New York, Kairo oder Moskau mittels der monochromen Hintergründe und farbig kontrastierenden, leuchtenden Buchstaben hervorzurufen. Die intensivfarbigen Wortbilder weisen damit bereits weit über das während der Ausbildung in der Schriftklasse an der Werkkunstschule in Offenbach Erlernte hinaus. Er formulierte im Bewusstsein seiner anfänglichen Außenseiterposition frühzeitig eine intuitiv analytische Perspektive auf den Kunstbetrieb und dessen Ein- und Ausschlusskriterien mit weiteren Sprachbildern wie ich war draußen, museum oder sammlung – sie spiegeln unter anderem Zustände, die von einer mangelnden Teilhabe geprägt waren.
Walther hat seine künstlerische Arbeit immer als eine Hinwendung zum Menschen verstanden. So begann er sich in einer verunsicherten und in der Systemkrise befindlichen Gesellschaft der Nachkriegszeit für eine menschlichere Lebenswirklichkeit einzusetzen. Mit dem Ersten Werksatz (1963–1969) richtete Walther sich konkret an den Verstand und das eigene Selbst wie auch das Gegenüber. Allen 58 Stücken aus Baumwolle des Ersten Werksatzes ist gemein, dass sie den Betrachter zum Handeln auffordern. Dies löst ein vielfältiges Spektrum an Denk-, Wahrnehmungs- und emotionalen Prozessen im Benutzer aus. Bei der Aktivierung der Stücke vollzieht sich eine beeindruckend vielgestaltige Kommunikation und es entstehen zwischenmenschliche Situationen, die von einem hohen Maß an Sensibilität für das Gegenüber bestimmt sind. Jeher hat Walther sich einer Erkundung von Nähe und Distanz, von Hinwendung und Abwendung zu- und voneinander gewidmet.
Seinen Leitideen von Teilhabe, Mitbestimmung, Selbstverantwortung und Willensbildung folgt die Arbeit Anwesenheit, 2020. Ähnlich den Werkaktivierungen, die Wechselwirkungen zwischen innen und außen erzeugen, greift er die vermeintlichen Antipoden von Person und Gegenstand miteinander auszusöhnen, auf. Wir möchten vorschlagen, sich mit einer zeitweiligen Konzentration auf diese Arbeit dem vielgestaltigen Werk einmal von einer anderen Perspektive zu nähern. Gilt es im Sinne der Teilhabe eine virtuelle und reale Kunsterfahrung gleichermaßen zu ermöglichen, aber auch in ihrer Wirkungskraft zu befragen.
Franz Erhard Walther sagte während der Vorbereitungen zu diesem Werk: „Sprache ist Material. Sprache entwickelt Bilder. Sprache ummantelt den Raum. Sprache fügt zusammen. Sprache verbindet Räume. Sprache überbrückt Zeit.“
Walther und das Haus der Kunst laden den realen wie auch virtuellen Betrachter mit der Arbeit Anwesenheit ein, Zeit und Raum im Geist zu überwinden, uns zu verbinden. Er führt eine Sichtbarmachung von immateriellen, aber gegenwärtigen Zuständen im Geist des Konzeptualismus herbei. Im Gegensatz zu einer Schnelllebigkeit und Reizüberflutung ruft er Besinnung hervor.
Es ist beeindruckend, inwiefern Walther als ein Pionier der interaktiven Kunst transformative Prozesse mit so einfachen und essentiellen Mitteln, wie der Sprache, sein Werk erneut in einen erweiterten Rezeptionsraum überführt. An der Schnittstelle von Geist und Materie verleiht er damit einer Medienreflexion erneut Anschaulichkeit.
Andrea Lissoni, seit April 2020 künstlerischer Leiter des Haus der Kunst, zur Arbeit "Anwesenheit":
"Das Haus der Kunst wird sich zunehmend mit den beiden entscheidenden Wandlungen auseinandersetzen, mit denen die Gesellschaft der Zukunft konfrontiert sein wird: dem Gefühl der Zugehörigkeit und der digitalen Welt. Gerne stellen wir uns der Verantwortung, diese Wandlungen mit dem Publikum zu teilen und die Welten von Künstler*innen zu präsentieren, die im 20. und 21. Jahrhundert dazu beigetragen haben, mittels einer Vielzahl von Medien Veränderungen auf visionäre Weise vorwegzunehmen und ins Auge zu fassen, wie Franz Erhard Walther dies zweifellos getan hat.
Es ist mir ein großes Anliegen, die Art, wie Räume genutzt wurden und werden, neu zu denken, die Wände durchlässig zu machen und die Wahrnehmung von Räumen und von Zeit herauszufordern. Franz Erhard Walters Anwesenheit ist das großzügige Ergebnis eines Dialogs zwischen der Institution und dem Künstler darüber, wie man Dinge auf andere Weise miteinander teilen kann. Er hinterfragt Konventionen von Raum und Zeit in bebenden Zeiten.
Vier Tage lang wurde die Website des Hauses der Kunst zum Kunstwerk.
Vierzig Tage lang, vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang, wird Anwesenheit zum nächtlichen Herzschlag vom Haus der Kunst."
Die Arbeit Anwesenheit wird insgesamt vierzig Tage lang nachts an der Westfassade des Haus der Kunst gezeigt.
Jana Baumann ist Kuratorin der Retrospektive „Franz Erhard Walther. Shifting Perspectives“ im Haus der Kunst, in deren Zusammenhang die Arbeit Anwesenheit präsentiert wird.